1899 Hoffenheim gegen Leverkusen: Kluger Strategiewechsel nach der Pause

Der Kraichgauklub bezwang die Werkself verdient mit 1:0 (0:0) und rückt somit noch ein Stückchen näher an die Königsklasse heran - Niklas Süle überragend

19.03.2017 UPDATE: 20.03.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 35 Sekunden

Tor des Tages: TSG-Stürmer Sandro Wagner (2.v.l.) setzt sich gegen Benjamin Henrichs durch und trifft zum 1:0, da Leverkusens Torhüter Bernd Leno den Ball noch abfälscht. Foto: APF

Von Joachim Klaehn

Sinsheim. Wie sich die Zeiten doch geändert haben: Bayer Leverkusen gehörte bis zum Beginn dieser Saison nicht gerade zu den Lieblingsgegnern des Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim. Im Gegenteil: Die Bilanz war mit die Schlechteste gegen alle anderen Erstligisten seit dem Aufstieg 2008 - und einen Dreier hatte "Hoffe" vor heimischer Kulisse noch nie geschafft. Seit Samstag gilt das nicht mehr. Der Kraichgauklub bezwang die Werkself verdient mit 1:0 (0:0) und rückt somit noch ein Stückchen näher an die Königsklasse heran. Als Mehrheitsgesellschafter Dietmar Hopp durch die Mixed Zone lief, hatte er sich zwei Sätze zurecht gelegt: "Der erste Heimsieg in der Bundesliga gegen Bayer Leverkusen ist schon etwas Besonderes. Es war wirklich ein tolles Spiel", sagte der Übervater, spürbar stolz auf seine "Nagelsmänner".

Fast alles, was Cheftrainer Julian Nagelsmann, seine kompakt auftretende Mannschaft sowie Manager Alexander Rosen im Hintergrund frisch säen, scheint zu gedeihen und Früchte zu tragen. So auch vorgestern: Sandro Wagner beendete nach 519 Minuten seine vorübergehende Flaute und markierte nach feiner Vorarbeit von Nadiem Amiri sowie vor allem von Steven Zuber das ausgelassen bejubelte Tor des Tages (62.). Ein kurioser Treffer, der die unterschiedliche Marschrichtung der Kontrahenten widerspiegelte. "Solch ein Gurkentor passt zu unserer Lage", meinte Leverkusens Torhüter Bernd Leno kopfschüttelnd. Der Mann mit der Maske bugsierte den Ball, der vorbei gegangen wäre, mit dem eigenen Fuß über die Linie. Wagner hingegen meinte knochentrocken: "Ich bin der Stürmer, er ist der Torwart - also ist es mein Tor. Und der Schiedsrichter ist der gleichen Meinung."

Damit war die Diskussion um ein mögliches Eigentor im Keim erstickt. Wagner schmunzelnd: "Ich habe das Ding irgendwie reingewurschtelt." Ein Raunen ging durchs Stadion, als die 28.117 Zuschauer - der Heimbereich war ausverkauft, 833 Bayer-Anhänger wurden im Gästeblock gezählt - die spielentscheidende Szene auf den beiden Anzeigetafeln nochmals sahen.

Einmal mehr bewiesen die Blauen, dass sie zu einem Spitzenteam gereift sind. Aus einer turbulenten ersten Hälfte, in der die Rheinländer ihre Klasse manifestierten, zog Hoffenheim die richtigen Schlüsse. Dank Nagelsmanns taktischer Umstellungen fand die TSG ihre Balance und bekam deutlich mehr Zugriff auf die packende Partie. "Julian weiß genau, was für unser Spiel notwendig ist", befand Kapitän Sebastian Rudy. Ballverluste der Hoffenheimer forcierten eine gewisse Konteranfälligkeit.

Auch interessant
: TSG Hoffenheim-Leverkusen: "Danke Kevin" an alter Wirkungsstätte
: Hoffenheimer Notenskala vor dem Spiel gegen Bayer Leverkusen
: Ende der Torflaute bringt Hoffenheimer Heimsieg
: Aufgespießt: Wo sind eure Elch-Ohren?

Der Strategiewechsel durch die Hereinnahmen von Amiri und Schwegler sollte sich bezahlt machen. "Ich kriege ja auch einen Euro fünfzig im Monat, um da einzugreifen", sagte Nagelsmann mit unnachahmlicher Spontanität. "Hoffe" kontrollierte nun das Geschehen, Kopf und Beine der Leverkusener wurden nach dem jüngsten Champions-League-Aus bei Atlético Madrid müder. "Wir haben Spieler auf dem Acker, die die Ideen des Gegners entschlüsseln können", freute sich Fußballlehrer Nagelsmann über die prompte Umsetzung seiner Eleven. Die Auffassungsgabe der Hoffenheimer kommt nicht von ungefähr.

Sportpsychologe Jan Mayer hat gemeinsam mit der Walldorfer SAP AG Brain-Apps entwickelt, die Denk- und Wahrnehmungsprozesse, Analyse- und situative Entscheidungsfähigkeit optimieren. Das Gehirntraining und Kopfkino sind ein weiteres Puzzleteil der Hoffenheimer Erfolgsgeschichte. Handlungsschnelligkeit und Tempofußball ergeben ein Sinngefüge. "Mastermind" Nagelsmann berücksichtigt jedes Detail. Die Profis hören auf denjenigen, der ihr Aufgabenprofil nach dem Baukastenprinzip aufdröselt, erst recht, so lange die Erlebnisse und zuvorderst die Ergebnisse auf dem Rasen stimmen.

Bei "Hoffe" könnte in Kürze eine neue Ära mit bisher unbekannten Kapiteln eingeläutet werden. Denn die Expertenwelt ist sich dahingehend einig, dass in der nordbadischen Provinz anno 2016/17 etwas ganz Besonderes entsteht. Europa kann kommen! "Es ist kein Zufall, dass die Hoffenheimer soweit vorne stehen", sagte Bayers erfahrener Sportdirektor Rudi Völler. Die TSG beschäftigt sich längst mit der Frage, wie es angesichts einer nationalen-internationalen Doppelbelastung personell weitergehen kann.

Einen Hochbegabten wie Niklas Süle (21) werden sie bald schmerzlichst vermissen. Gegen Leverkusen zeigte Süle eine phantastische Vorstellung. Der lange Innenverteidiger fungierte als "Libero" und Spielgestalter. 150 Ballaktionen, 97 Prozent Passquote - solche Traumwerte konnte noch kein Akteur seit der Bundesliga-Datenverfassung 2004 verzeichnen. Dem FC Bayern München, seinem künftigen Arbeitgeber, dürfte das gefallen. Für die TSG hingegen wird es zu einer speziellen Herausforderung, einen neuen Süle zu finden und die Teamstruktur weiter zu stärken. Anderer Wochenrhythmus, andere Trainingssteuerung, andere Fußballwelt - spannender geht’s wohl kaum ...

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.