Daten, Show-Rooms, Virtual Reality

So funktioniert die digitale Kommandozentrale von 1899 Hoffenheim

Millionen Daten aus Reaktionstests, Simulationen und Videoanalysen - Vorreiter in der schönen neuen Fußballwelt

01.04.2019 UPDATE: 02.04.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 50 Sekunden

"Wie bei der Matrix": Hoffenheim-Geschäftsführer Peter Görlich in der neuen digitalen Kommandozentrale in Zuzenhausen. Foto: Uwe Grün

Von Frederick Mersi

Zuzenhausen. "Wie bei der Matrix", sagt Peter Görlich, als sich die sieben Meter breite Glasscheibe hinter ihm auf Knopfdruck in eine milchige Projektionsfläche verwandelt. Es erscheinen die PreZero Arena und mehrere Menüoptionen. "Ich hoffe, der erste Eindruck ist imposant", sagt der Geschäftsführer der TSG 1899 Hoffenheim Fußball-Spielbetriebs GmbH in Richtung der Journalisten.

Der Bundesligist stellt seine Kommandozentrale auf dem Weg zum digital optimierten Fußball vor: den "SAP Interactive Data Space", einen Show-Room des Hauptsponsors aus Walldorf - mit Kunstrasen, 16 Trainerbank-Sitzen und vielen Touchscreens.

Von der Elfmeter-Voraussage ...

Die schöne neue Welt im Profigeschäft ist digital. Auf über 200 Millionen Datenpunkte zu hunderten Merkmalen können Analysten und Führungspersonal der TSG in der neuen Kommandozentrale zugreifen: Trikotverkäufe, Stadionauslastung und - für den sportlichen Erfolg am wichtigsten - Leistungswerte der Spieler.

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"Finde ich übrigens mega", entfährt es Torwart Oliver Baumann, als er sein virtuelles Selbst in Spieltagsmontur auf dem wandfüllenden Touchscreen aus Glas sieht - mit Kennwerten seiner körperlichen Fitness. Seine Elfmeter-Bilanz ersparen ihm die Entwickler bei der Präsentation. "Zum Glück", sagt Baumann und grinst.

Festgehalten ist sie im Netzwerk seines Arbeitgebers dennoch. Genauso wie seine Geschwindigkeit im 30-Meter-Sprint, die erreichte Höhe im Hocksprung oder sein Körperfettanteil. Die Journalisten dürfen die Werte nicht sehen - aus Datenschutzgründen. Stattdessen zeigt Matthias Weber, Innovation Manager bei SAP, lieber eine Elfmeter-Szene aus dem August 2017.

Wohin Gegenspieler Wendell von Bayer Leverkusen beim Anlauf schaut, wie schnell er schießt: Alles ist in der SAP-Software "Penalty Insights" erfasst. Ein Vorteil bei der Wahl der Ecke? "Bevor man sich gar nicht entscheiden kann, ist eine Wahrscheinlichkeit schon gut", sagt Baumann lapidar.

Doch im Nachwuchsbereich setzt Hoffenheim große Hoffnungen in "Big Data". Ab der U10 werden Jugendspieler bei der TSG auf körperliche und geistige Fitness geprüft, im "Interactive Data Space" sollen die Informationen ausgewertet und dargestellt werden. "Es gibt wenige Klubs, wo SAP-Daten so integriert sind wie bei uns", sagt Görlich. Der Kraichgauklub nimmt auf diesem Gebiet neben Borussia Dortmund, RB Leipzig und Bayern München eine Vorreiterrolle ein.

Zum Beispiel mit dem "Footbonauten": Dort bildet ein Algorithmus bei Kurzpassübungen - auf Wunsch in Stadionatmosphäre - einen Punktwert aus Tempo und Genauigkeit. "14-Jährige, die 170 Mal im Jahr in unserem ,Footbonauten’ trainieren, haben im Kurzpassspiel das Niveau eines besseren U23-Spielers, der nicht darin übt", sagt Teampsychologe Jan Mayer. Der Nachwuchs soll am Ende in die Spielphilosophie des Klubs passen, heißt es immer wieder, mit temporeichem Offensivfußball, wie zuletzt beim 4:1-Heimsieg gegen Bayer Leverkusen.

Dementsprechend schnelle Reaktionen erwartet der Bundesligist von künftigen Profis - und deshalb suchen die Jugendspieler nach dem Mittagessen auch mal gleichfarbige Zahlen auf dem iPad, statt Freistöße zu üben. Mit Spielereien hat das nichts zu tun, es geht um das Trainieren kognitiver Fähigkeiten.

"Das muss in 20 Minuten erledigt sein", sagt Mayer. "Da wird auch nicht gelacht." Denn am Ende geht es beim Zahlenmemory in Zuzenhausen darum, wer sich seinen Traum von der Profi-Karriere erfüllen darf. Alle Leistungsdaten sind in der Gruppe vergleichbar.

Enrique Paez von der Osloer Firma "be your best" führt die Champions-League-Simulation auf der Virtual-Reality-Brille vor. Foto: Uwe Grün

Auch auf Champions-League-Niveau werden die Nachwuchskicker getestet - in einem kühl gestalteten Raum mit grauem PVC-Boden und schwarzer Decke. Mit einer Virtual-Reality-Brille versetzen sich die Jugendlichen in Cristiano Ronaldo oder Andrea Pirlo, müssen sich in der Simulation der Osloer Firma "be your best" in Sekundenbruchteilen zurechtfinden und den Pass beim Mitspieler anbringen. Die virtuelle Königsklasse soll bald auch als 360-Grad-Umgebung bereitstehen.

Auch wenn Hoffenheims Geschäftsführer Görlich betont, dass es nicht um eine Verwissenschaftlichung des Fußballs gehe: Die Auswertung der Leistungsdaten obliegt bei der TSG ausgebildeten Analysten. Die Deutsche Sporthochschule (DSHS) in Köln bietet dazu einen Master-Studiengang an. "Denn die entscheidende Frage ist: Was mache ich mit den Daten?", sagt Daniel Memmert, Professor für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der DSHS. "Die Leute, die in diesem Bereich aktiv sind, kommen vor allem aus der Wissenschaft. Das ist auch wichtig für die Qualitätssicherung."

Kognitive Fähigkeiten würden für Profiklubs immer wichtiger, so Memmert: "Das ist ein Riesenschwerpunkt, weil alle Athleten auf diesem Niveau schnell laufen können." Entscheidend sei aber, dass die Qualität der Daten stimme.

Die Hoffenheimer nutzen zum Beispiel das "Wiener Testsystem", das mit seinen bunten Knöpfen an Spielkonsolen aus den Neunzigern erinnert und früher vor allem in der militärischen Ausbildung eingesetzt wurde. "Da muss ich bereit sein, darüber zu diskutieren, ob das heute noch State of the Art ist", sagt Memmert.

"Aber ich bin mir sicher, dass eine positive Gesprächskultur im Verein gelebt wird." Bedenken bezüglich Datenschutz hat er nicht. "Das ist total unkritisch, die Spieler haben das sicherlich in ihren Verträgen stehen."

Ulf Baranowsky ist da zurückhaltender: "Der Klub hat zwar ein berechtigtes Interesse an diesen Erhebungen, das birgt aber auch Gefahren für den Spieler", sagt der Geschäftsführer der Profifußballer-Gewerkschaft VDV.

... bis zum kognitiven Training

"Blutwerte sollten zum Beispiel grundsätzlich nur für Ärzte und nicht für zu viele Mitarbeiter einsehbar sein." Mahnendes Beispiel sei Stabhochspringer Tim Lobinger, dem nach Bekanntwerden seiner Krebserkrankung der Abschluss eines Handyvertrags verweigert wurde. Er habe auch von einem Fußballverein erfahren, der einen HIV-Test zur Voraussetzung für einen neuen Vertrag machen wollte.

Wichtig ist Baranowsky deshalb, dass Spieler über Rechte im Umgang mit ihren Daten aufgeklärt werden. Der Druck, sein Einverständnis zu erklären, sei gerade im Nachwuchsbereich enorm. Gleichzeitig habe auch der Spieler ein Interesse daran, zu erfahren, in welchen Bereichen er sich verbessern muss. "Diese Daten können auch dabei helfen, überehrgeizige Spieler im Fall einer Verletzung vor sich selbst zu schützen", sagt Baranowsky.

Dass der ohnehin enorme psychische Druck auf Spieler durch die ständige Leistungserfassung weiter steigen könnte, fürchtet keiner der Beteiligten. "Was seine sportliche Leistung auf dem Platz angeht, ist der Profi-Fußballer längst völlig gläsern", sagt Baranowsky. Auch im Jugendbereich sei die Erfassung zahlloser Leistungsdaten Normalität, sagt DSHS-Professor Memmert: "Für die Spieler ist das wie Klausuren in der Schule schreiben."

Aufzuhalten ist diese Entwicklung wohl nicht. Von einer "Goldsucher-Mentalität" spricht TSG-Geschäftsführer Görlich. Die neue Kommandozentrale ist da nur ein logischer Schritt in Richtung schöne, neue Fußballwelt.

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