Eine Großbaustelle

Zuzenhausen. Wenig Punkte, viele Fragezeichen: Das "Zukunftsmodell Hoffenheim" ist schwer zu erkennen

22.11.2012 UPDATE: 22.11.2012 06:18 Uhr 2 Minuten, 25 Sekunden
Der Trainer und sein Sorgenkind: Markus Babbel (l.) diskutiert mit Tim Wiese. Foto: apf
Von Roland Karle

Zuzenhausen. Nach einem Drittel der Saison steht die TSG 1899 Hoffenheim sportlich so schlecht da wie noch nie zu Bundesliga-Zeiten: Nur ein Punkt trennt die Mannschaft von einem Abstiegsplatz, im Pokal war nach dem blamablen 0:4 beim Regionalligisten Berliner AK schon in der ersten Runde Schluss. Nun steht eine englische Woche mit zwei Heimspielen gegen Leverkusen (25.11.) und Bremen (2.12.) sowie einer Auswärtspartie bei Tabellennachbar Nürnberg (28.11.) an. Das 2006 gestartete, anfangs überaus erfolgreiche "Zukunftsmodell Hoffenheim" ist kaum wiederzuerkennen. Es gibt zahlreiche Baustellen beim Bundesligisten.

Der Trainer: Wäre Markus Babbel im Profifußball ein so unbeschriebenes Blatt, wie es Vorvorgänger Marco Pezzaiuoli war - er hätte bei seiner schlechten Bilanz (29 Punkte in 26 Spielen) wohl schon seine Koffer packen müssen. Der Promi- und Bayern-Bonus ist nun aufgezehrt, Babbel muss liefern. Nicht nur Punkte, auch sichtbare Fortschritte und intelligentere Erklärungen ("Die Jungs machen zu einfache Fehler", "Müssen weiterarbeiten"). Außerdem dringend gesucht: eine erkennbare Spielidee, die zur Mannschaft passt.

Die Neuzugänge: Mehr Erfahrung wollte Babbel dem Kader zuführen und in Richtung Europa durchstarten. Im Tor wurde ohne Not eine Baustelle aufgemacht: Tom Starke musste trotz guter Leistungen Tim Wiese (30) weichen. Der hat bislang weder sportlich noch als Kapitän überzeugt. Matthieu Delpierre (31), den Babbel aus Stuttgart kennt, spielt ordentlich, ist aber über seinem Zenit. Dafür wurde der deutlich jüngere, schnelle Isaac Vorsah (24) nach Salzburg verkauft. Unverständlich. 5,5-Millionen-Einkauf Eren Derdiyok (24) wurde zum Bankdrücker statt Torjäger. Chris (34) war schon vor dem Wechsel dauerverletzt. Patrick Ochs (28) und Stephan Schröck (26) spielen kaum, bei Malbasic (20) hat Babbel "Magenschmerzen". Lediglich der zu Ernst Tanners Zeiten verpflichtete Kevin Volland (20), Takashi Usami (20) und der Sechs-Millionen-Angreifer Joselu (22) haben die Mannschaft stärker gemacht.

Das Konzept: Die einstige Philosophie, auf vorwiegend entwicklungsfähige, möglichst auch günstige deutsche Talente zu setzen, wurde durch die Kaderzusammenstellung konterkariert. Und hat nichts gebracht: Routiniers wie Wiese, Chris und Ochs sind formschwach oder verletzt, Salihovic (zweimal gesperrt) und Weis (in U23 verbannt) undiszipliniert. Auf diese Weise kommt der Jugendstil ungeplant zurück: Talente wie Volland, Usami, Grifo, Streker, Jensen gehören zu den Lichtblicken.

Die Zuschauer: Die Region hat Appetit auf Bundesliga-Fußball, aber die Kost muss verdaulich sein. Gegen Wolfsburg gab es schon nach 25 Minuten die ersten Pfiffe. Verständlich: Es stand 0:2 und die Heimelf lief wie Falschgeld umher. Manager Andreas Müller sollte sich über die schrillen Töne von der Tribüne nicht beschweren, sondern - zumindest ein bisschen - freuen. Solange sie noch pfeifen, äußern die Zuschauer ihre Leiden(schaft). Schlimmer: Viele kommen gar nicht mehr. Der Minusrekord von 20.500 ist kein Ausreißer, sondern schreibt den Abwärtstrend fort.

Die Führung: "Man muss die Menschen mitnehmen", sagt Schalke-Aufsichtsratsvorsitzender Clemens Tönnies im aktuellen Bundesliga-Magazin. Eine kluge Erkenntnis des Unternehmers, der "die enorme Publikumswirksamkeit im Fußball" nicht unterschätzt. Bei 1899 war das oft anders: Zu Jahresbeginn 2011 wurde Hoffenheims Bester Luiz Gustavo gegen den Willen von Trainer Ralf Rangnick verkauft, gut ein Jahr später Coach Holger Stanislawski rausgeworfen (Hoffe war Achter), kurz darauf Sportdirektor Ernst Tanner entlassen, dann folgte die Demission des aufrechten Torwarts Tom Starke. Entscheidungen, die zu wachsendem Unmut bei den Anhängern führten. Eilig einberufene Fantreffen können zwar Feuer löschen, aber Brandblasen und Enttäuschung bleiben dennoch.

Das Umfeld: Das Magazin "Stern" hat im Artikel "Kein Märchen mehr" den großen Einfluss von Spielerberater Roger Wittmann beschrieben. Seine Agentur Rogon betreut zurzeit Chris, Conrad (U23), Firmino, Gyau (ausgeliehen an St. Pauli), Malbasic, Salihovic, Weis, Wiese - das sind acht 1899-Kicker, von denen man weiß. Zudem war er vor der Saison am Transfer des Fürthers Schröck beteiligt. 1899-Gesellschafter Dietmar Hopp sieht in Wittmann einen "guten Freund" und Ratgeber. Die "aufkommenden Irritationen" sollte eine Fan-Veranstaltung in der letzten Woche beseitigen. Das Kernproblem bleibt: die Interessenskollision. Ein Spielerberater, der zugleich Einfluss auf Vereinsentscheidungen nimmt, verhandelt - streng zu Ende gedacht - mit sich selbst. Das ist so, als würde ein Rechtsanwalt zugleich Schöffe oder Richter sein.

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