Die Immunität ist aufgehoben

Zuzenhausen. TSG 1899 Hoffenheim muss sich unbequemen Wahrheiten stellen. Trainer Babbel entscheidet gegen Torwart Tim Wiese

27.11.2012 UPDATE: 27.11.2012 07:03 Uhr 2 Minuten, 33 Sekunden
Quo vadis, TSG 1899 Hoffenheim? Sven Schipplock trauert den vergebenen Chancen gegen Bayer Leverkusen (1:2) nach. Foto: APF
Von Roland Karle

Zuzenhausen. Die gute Nachricht: Gegen den 1. FC Kaiserslautern sieht die Hoffenheimer Bilanz glänzend aus. In den bisher sechs Erst- und Zweitligaspielen gegen die Pfälzer gab es vier Siege und zwei Unentschieden. Das macht Hoffnung für die beiden Partien am 23. und 28. Mai 2013, wenn es um die Qualifikation für die Bundesliga geht. Zugegeben, das ist ein bisschen forsch in die Zukunft geblickt, aber nach heutigem Stand träfen Hoffenheim als Bundesliga-Sechzehnter und Kaiserslautern als Dritter der 2. Liga in der Relegation aufeinander.

Soweit muss es ja nicht kommen. Allerdings ist der jüngste Trend alarmierend. Nach nur einem Sieg in den vergangen acht Spielen schwebt ein Wort giftwolkig über der Rhein-Neckar-Arena: Abstieg. Die Spieler beschäftigen sich offenbar noch nicht näher mit der lauernden Gefahr. "Ach was, damit haben wir nichts zu tun", wehrte Vincenzo Grifo entsprechende Fragen ab. Ganz so, als ob ein Hoffenheimer Klassenverbleib im Grundgesetz der Bundesliga festgeschrieben sei. Auch viele seiner Kollegen verweisen gerne auf die Qualität, die im Kader schlummert.

Schlummern - das ist ein gutes Stichwort. Denn im bundesligaweiten Schlummerwettbewerb liegt Hoffenheim zurzeit ganz weit vorne. Wir erinnern uns: Im Herbst 2011 blieb die TSG in drei Heimspielen hintereinander sieglos. Jeweils 1:1 endeten die Partien gegen Kaiserslautern, Freiburg und Hertha, jeweils durch Gegentore in der Schlussviertelstunde, zweimal fiel der Ausgleich gar in der 90. Minute. Sechs Punkte gingen dadurch flöten und die Hoffenheimer als Neunter statt als Sechster in die Winterpause.

Inzwischen ist das Problem der späten Knockouts beseitigt. Kurz vorm Schlusspfiff schenkt die Mannschaft keine Spiele mehr her - das erledigt sie jetzt gleich am Anfang. Gegen Wolfsburg stand es nach 24 Minuten 0:2, eine Woche später gegen Leverkusen dauerte es immerhin 38 Minuten bis zum Zwei-Tore-Rückstand. Diese Schläfrigkeit lässt sich an der Erste-Halbzeit-Tabelle ablesen: Legt man die Ergebnisse nach 45 Minuten zugrunde, kommt Hoffenheim auf acht Punkte, lediglich Schlusslicht Augsburg (sieben Punkte) ist schlechter. Zum Vergleich: Nach der Pause schalten Babbels Buben in den Aufholmodus, holten - eliminiert betrachtet - im zweiten Durchgang die achtbeste Ausbeute aller Erstligisten (13 Punkte).

Manager Andreas Müller will gar nichts beschönigen. "Wir können alle die Tabelle lesen", sagt er vor dem Auswärtsspiel morgen beim 1. FC Nürnberg, der um einen Platz und einen Punkt besser dasteht als die Kraichgau-Kicker. Ein Kellerduell, dessen Ausgang auch die beruflichen Aussichten von Markus Babbel beeinflussen wird. Die Diskrepanz zwischen Anspruch (Europa League) und Wirklichkeit (Relegationsrang) könnte kaum größer sein. Wie seine Mannschaft gegen Wolfsburg und vor allem Leverkusen in der zweiten Halbzeit den Turbo einschaltete, flott kombinierte und so zu mehreren Großchancen kam, ist jedoch ermutigend. "Wir machen die Dinger nicht rein und gehen dann als Verlierer vom Platz", haderte Torschütze Fabian Johnson. Selbst die kritischsten Zuschauer spendierten artig Beifall.

Mitleid und Komplimente sind die falsche Währung. Hoffenheim braucht Punkte. Babbel hat erkannt, dass die Zeit der trügerischen Treueschwüre angebrochen ist. Jede neue Niederlage zeichnet tiefere Spuren in sein Gesicht, dennoch wirkt er besonnen. Und trifft Entscheidungen: Gegen Leverkusen beorderte er den bei seinen vorherigen Kurzeinsätzen stark auftrumpfenden 19-jährigen Grifo erstmals in die Stammelf; der im Sommer mit Übergewicht und außer Form am neuen Arbeitsplatz erschienene 5,5-Millionen-Einkauf Eren Derdiyok kam erst nach der Pause.

Jetzt hat der Trainer auch die Immunität für Torhüter Tim Wiese aufgehoben. Der verletzte sich im Abschlusstraining und wurde vom 20-jährigen Koen Casteels gut vertreten, doch auch ein gesunder Wiese wäre draußen geblieben. "Ich hatte mich für Koen entschieden", sagt Babbel.

Damit korrigiert er seinen Fehler, den Neuzugang aus Bremen zum Kapitän gemacht zu haben. Und signalisiert nach dessen schwachen Auftritten, dass es streng nach Leistung und nicht nach Star-Status, Gehaltshöhe oder internen Einflüsterungen geht. Wiese ist einer von acht Profis aus der Rogon-Riege, zu der auch der wegen angeblicher Ausfälligkeiten gegen die sportliche Leitung aussortierte Tobias Weis gehört. Deren Berater Roger Wittmann pflegt bekanntlich beste Beziehungen zu 1899-Eigner Dietmar Hopp.

Vermutlich macht sich Babbel durch seine jüngsten Entscheidungen keine neuen Freunde im Führungszirkel des Klubs. Aber es wäre ein Fortschritt für die TSG 1899 Hoffenheim, wenn das für die Bewertung des Trainers keine Rolle spielte.

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