1899 Hoffenheim

Offensive zum Atem rauben, Defensive zum Haare raufen

Beim 3:3 in Berlin geht es wieder einmal rasant zu - Nagelsmann kann sich darüber nicht mehr freuen

25.11.2018 UPDATE: 26.11.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 50 Sekunden
Unsortiert: Die Hoffenheimer Kevin Vogt (v.l.), Kevin Akpoguma und Torhüter Oliver Baumann müssen hier den 1:2-Anschlusstreffer des ehemaligen TSGlers Vedad Ibisevic hinnehmen. Kurz vor Schluss gelingt den Herthanern dann sogar noch das 3:3. Foto: APF

Von Nikolas Beck

Berlin. Frank Zanders Kulthymne "Nur nach Hause" ist den Hertha-Fans heilig. Seit 1993 werden in der Ostkurve die Schals zur "Sailing"-Melodie in die Höhe gestreckt. Und als die Klubbosse zu Saisonbeginn ohne Vorankündigung zum Einlauf der Mannschaften "Dickes B" von Seeed über die Lautsprecher schallen ließen, ging "janz Berlin" auf die Barrikaden. Inzwischen darf Zander wieder unmittelbar vor dem Anpfiff ran: "Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause, geh’n wir nicht."

Ein Versprechen aus 44.508 Kehlen, das am Samstagnachmittag keine Minute später bereits auf eine harte Probe gestellt wurde. Hoffenheims Kerem Demirbay traf nach gerade einmal 42 Sekunden zum 1:0 für die Gäste, Andrej Kramaric erhöhte wenig später auf 2:0 (10.). So mancher Herthaner hätte am liebsten Reißaus genommen.

Weil der TSG beim 3:3 (2:1)-Unentschieden aber auch eine zweite Zwei-Tore-Führung nach Ermin Bicakcics Kopfballtreffer zum 3:1 (55.) nicht reichte, den Sieg ins Ziel zu bringen, musste es kein Berliner bereuen, im Olympiastadion ausgeharrt zu haben - und die TSG droht in eine Identitätskrise zu rutschen.

"Hoffe" steht für Spektakel, für Vollgas-Veranstaltungen, die dem Beobachter regelmäßig den Atem rauben. Für Torchancen beinahe im Minutentakt, aber eben auch für ein Defensivverhalten zum Haare raufen. "Für den Zuschauer war es ein interessantes Spiel", musste TSG-Coach Julian Nagelsmann einmal mehr konstatieren. Er klang dabei aber deutlich weniger euphorisch als sein Kapitän Kevin Vogt in der vergangenen Woche im RNZ-Interview.

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Wenn die Spielweise dazu führe, dass man vielleicht mal ein Tor bekomme, aber sich dadurch ausreichend Gelegenheiten für zwei oder drei Tore erarbeite, könne er damit gut leben, so der Abwehrchef: "Das ist der Weg, der uns ausmacht - und ich kann mich mit diesem Fußball voll identifizieren."

Der Trainer kann das offenbar immer weniger. "Ich habe das dieses Jahr schon 15 Mal gehört, wie toll es ist, unsere Spiele zu sehen", sagte der 31-Jährige: "Ich würde viel häufiger gerne mal ein dreckiges 1:0 sehen." Dafür, das wurde in der Hauptstadt einmal mehr deutlich, benötigt es bei seinen Schützlingen aber ein Umdenken.

Hintergrund

Einzelkritik
Baumann: Dreimal geschlagen und doch ausgezeichnet. Parierte mehrfach glänzend und bereitete den Kramaric-Treffer direkt vor.

Bicakcic: Gute Leistung von "Eisen-Ermin". Hätte es verdient, zum

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Einzelkritik
Baumann: Dreimal geschlagen und doch ausgezeichnet. Parierte mehrfach glänzend und bereitete den Kramaric-Treffer direkt vor.

Bicakcic: Gute Leistung von "Eisen-Ermin". Hätte es verdient, zum Matchwinner zu werden.

Vogt: Unglücklich beim ersten Gegentor, eher wackliger Auftritt.

Akpoguma: Solide Vorstellung. Nur am Anfang mit Problemen.

Kaderabek: Hatte Pech, dass sein Schuss auf der Linie geklärt wurde.

Schulz: Unterdurchschnittliche Partie an alter Wirkungsstätte.

Nordtveit: Schwach. Schaffte es nicht, im Mittelfeld für Ruhe und Stabilität zu sorgen.

Demirbay: Blitztor nach 42 Sekunden, Freistoß-Vorlage zum 3:1. Das war’s dann aber auch.

Kramaric: Im ersten Durchgang top. Sehenswerter Treffer zum 2:0. Vergab aber auch eine Großchance.

Joelinton: Mal wieder einer der stärksten. Wurde ab und an von seinen Mitspielern übersehen.

Szalai: Gute Übersicht, als er beim 1:0 für Demirbay ablegte. Aber sonst?

Belfodil: Hing nach seiner Einwechslung für Szalai ein bisschen in der Luft.

Bittencourt: Kam für Kramaric.

Nelson: Sein Einsatz ab Minute 88 war dann auch für den Topjoker zu kurz, um zu stechen. (nb)

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Es wäre nicht gerecht, den "Nagelsmännern" mangelnde Einstellung vorzuwerfen. Aber Charakter zeigt die Mannschaft vor allem immer dann, wenn es nach vorne geht. Das denkwürdige 2:2 nach 0:2 Rückstand in Unterzahl, die "Schlacht" (Vogt) im Regen von Lyon, dient dafür als Paradebeispiel.

Die Problematik, zu selten zu null zu spielen und Führungen nicht über die Zeit zu bringen, zog sich allerdings auch schon wie ein roter Faden durch die vergangene Saison. "Unser Verteidigungsverhalten", sagte Nagelsmann und betonte einmal mehr, damit die gesamte Elf anzusprechen, "reicht aktuell nicht aus, um gegen einen Gegner auf Augenhöhe das ganz Große zu erreichen."

Die Einschätzung des Trainers mag überzogen klingen, schließlich hatte sein Team die vier Spiele zuvor allesamt gewonnen, sie lässt aber auch tief blicken. Mittelmaß nervt Nagelsmann. Und das Wild-West-Remis an der Spree, in dem stets scharf geschossen wurde, ist für den erfolgsbesessenen Landsberger ein weiterer Beleg dafür, dass "Hoffe" noch kein Topteam ist: "Zwei, drei Tore machen wir eigentlich immer. Für eine richtige Spitzenmannschaft reicht das auch meistens - für uns nicht so oft."

Dabei hapere es weniger an taktischen Dingen. Nagelsmann sprach von "Haltung zur Defensive, die zwischen den Ohren beginnt". Davon, dass der Wille zum "maximalen Erfolg noch nicht in allen Rüben drin" sei, stattdessen zu viel "Schöngeistiges." Das sei allerdings nichts, was alleine mit Training zu regeln sei - und ist für einen Fußballlehrer wohl die härteste Nuss, die es zu knacken gilt.

"Frust" nehme Nagelsmann dennoch keinen mit in die nächste Partie (schon am Dienstag kommt Schachtar Donezk in die Rhein-Neckar-Arena, 21 Uhr/DAZN), "weil das kein guter Ratgeber ist."

Der Ärger darüber, dass der Vereinsrekord von fünf Siegen in Serie nicht eingestellt wurde, war aber auch dem spielenden Personal deutlich anzusehen. "Heute überwiegt die Enttäuschung", sagte Ermin Bicakcic, der zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder getroffen hatte. "Wir haben uns nicht zu sicher gefühlt, aber das Ding in der zweiten Hälfte einfach komplett weggegeben", monierte der Bosnier, dass man es den Berlinern bei ihren Toren durch Ibisevic (13.), Leckie (71.) und Lazaro (87.) zu einfach gemacht habe.

Lächeln konnte eigentlich nur einer: Nico Schulz hielt es nach seiner Rückkehr in die Heimat eher mit Hertha-Coach Pál Dárdai ("Wir akzeptieren den Punkt, das Leben geht weiter"), als er mit dem Töchterchen an der Hand und dem Sohnemann auf dem Arm den Rasen verließ. "Nein, wir haben nicht gewonnen", erklärte er: "Wir haben nur fast gewonnen …"

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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