Alles eine Frage der Mode

Vom Laufsteg zum Catwalk: Jede Menge Migranten beherrschen den Wortschatz

24.01.2017 UPDATE: 30.01.2017 06:00 Uhr 5 Minuten, 49 Sekunden
Alles eine Frage der Mode

Auf dem Catwalk: Heidi Klum schreitet während ihrer Castingshow "Germany’s Next Topmodel" über den Laufsteg. Sie trägt ein Raubkatzen-Outfit. Foto: dpa

Von Theo Stemmler

Die Sprache der Mode in Deutschland wimmelt von Migranten aus aller Herren (und Damen) Länder. Sie scharen sich um einen harten Kern heimischer Wörter, die das unbedingt Notwendige ausdrücken. Schließlich soll Kleidung vor Erfindung der Mode ursprünglich die Nacktheit verhüllen (so die Feigenblätter Adams und Evas) und den Körper vor Unbilden der Witterung schützen (so die Schaffelle Ötzis).

Zu diesen urgermanischen Wörtern gehören Kleid, Hose, Rock, Hemd, Schuhe, Hut. Sie alle haben etwas mit dem Schutz des Körpers zu tun: Hemd, Hose und Schuh bezeichneten ursprünglich eine Art "Hülle" - und der Hut wurde von der schützenden "Hut" abgeleitet.

Später erhielt Kleidung dann die Funktion, das Erscheinungsbild des Menschen zu verschönern und / oder erotischen Reiz auszuüben - so seit der Renaissancezeit die provozierend männlichen "Hosenbeutel" oder die zuweilen schamlosen Dekolletés der Damen. Erstere sind heute nur noch in subkulturellen Milieus anzutreffen, letztere haben inzwischen in besonders offenherziger Form sogar das Oktoberfest erobert.

Mit dem Dekolleté sind wir bereits bei den Migranten in unserem Wortschatz der Mode angelangt. Dieses Wort kann stellvertretend für die vielen modischen und begrifflichen Übernahmen aus Frankreich stehen, die in der Neuzeit nach Deutschland einwandern. Besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg heißt das verwüstete, kultur- und modehungrige Deutschland Französisches willkommen - und bei dieser Vorliebe sollte es bis ins 20. Jahrhundert bleiben.

Bezeichnenderweise trifft der zentrale Begriff "Mode" im 17. Jahrhundert aus Frankreich bei uns ein - zur Zeit der französischen kulturellen Vorherrschaft in ganz Europa. Er bleibt bis ins 20. Jahrhundert ohne Konkurrenz. Doch seit einigen Jahrzehnten wird er immer öfter durch einen englischen "Migranten" ersetzt: durch "fashion" - in der "Fashion Week" aufs Schönste präsentiert. Dass der Neuzugang aus dem französischen "façon" abgeleitet ist, vermag die stolzen Franzosen kaum zu trösten. Dieser Einwanderer ist übrigens, wie viele andere, weder phonetisch noch orthographisch integriert - im Unterschied zu "fesch" (aus "fashionable"), dessen englische Herkunft nicht mehr erkennbar ist.

Auch bei den wichtigsten Akteuren der Modewelt lässt sich die Rivalität zwischen französischen und englischen Einwanderern, aber auch Einheimischen beobachten. Die französischen Mannequins, im 18. Jahrhundert in Deutschland eingebürgert, sind längst durch angloamerikanische Models ersetzt. Und für ihre männlichen Kollegen ist erst vor kurzem der "Dressman" erfunden worden - ein Migrant mit gefälschtem Pass: Er ist gar kein Engländer, sondern tut nur so. Ihn gibt es im Englischen nicht, wo man ihn umständlich als "male model" bezeichnet - ein "Pseudo-Anglizismus" also.

Models und Dressmen defilieren oft nicht mehr auf einem Laufsteg, sondern - etwa in Heidi Klums Casting-Show "Germany’s Next Top Model" - auf einem Catwalk: einem schmalen, eigentlich nur für Katzen begehbaren Steg.

An den Begriffen für die Materialien, aus denen die Objekte modischer Begierde hergestellt werden, lässt sich die fortschreitende Verfeinerung ablesen. In multikultureller Eintracht stehen Einheimische vor allem neben französischen Zuwanderern: Leinen neben Velours, Wolle neben Gabardine, Loden neben Popeline, Satin und Flanell. Doch auch Italiener wurden willkommen geheißen - Taft und Brokat zum Beispiel. Selbst Schotten aus dem hohen Norden Europas - Glencheck und Tweed - sind mit von der Partie. Aus dem nordenglischen Manchester kam Cord ins Deutsche - bis heute untrügliches Markenzeichen progressiver Intellektueller. Die ganz feinen Gewebe kommen von ganz weit her: Kaschmir aus Asien und Alpaka aus Südamerika. Doch der Stoff für das beliebteste Kleidungsstück aller Zeiten - für die Jeans - ist aus Frankreich nach Amerika und von dort in alle Welt, auch nach Deutschland, gewandert: Denim - "aus Nîmes" (nach dem früher wichtigen Produktionsort für diesen festen Baumwollstoff in Köperbindung).

Bei den einzelnen Kleidungsstücken kämpfen französische mit englischen und amerikanischen Migranten, aber auch Einheimischen um das Bleiberecht. Als Kopfbedeckungen haben sich - warum auch immer - neben dem einheimischen Hut vor allem einige frühe lateinische Einwanderer durchgesetzt: Mütze und Kappe; die Kapuze allerdings stammt aus Italien. Der den Körper umhüllende und schützende Mantel ist ebenfalls eine lateinische Errungenschaft, während dessen spezielle Varianten ausnahmslos längst eingebürgerte englische Migranten sind. Trenchcoat und Raglan sind kriegerischer Herkunft: Ersterer wurde von Burberry für die britischen Offiziere im Ersten Weltkrieg (wörtlich: "Schützengrabenmantel") entworfen, letzterer für den General Raglan im Krimkrieg. Eher für sportlich Orientierte geeignet ist der Dufflecoat - ein phonetisch und orthografisch überhaupt nicht integrierter "Migrant".

Zu dieser europäischen multikulturellen Gesellschaft vor Kälte und Nässe schützender Kleidungsstücke stoßen noch der sibirische Parka (samojedisch) und der grönländische Anorak (Inuit), die ohne phonetische oder orthografische Veränderungen problemlos ins Deutsche eingebürgert wurden.

Bis zur etymologischen Unkenntlichkeit integriert sind alltägliche Kleidungsstücke wie Jacke (franz. "jaque") und Bluse (franz. "blouse"), deren jüngere Nachfahren "Jackett" und "Blouson" allerdings deutlich als Franzosen zu erkennen sind. Der Blazer wiederum kann seine Herkunft aus englischen Clubs weder phonetisch noch orthografisch verleugnen. Und auch das Sakko, der jüngere Konkurrent der Jacke, ist deutlich als italienischer Immigrant zu erkennen.

Zu festlichen Anlässen werden drei Engländer und ein Inder eingeladen - skurrile Erscheinungen. Hinter dem Frack verbirgt sich der englische "frock" - Mönchskutte und (!) Damenkleid bezeichnend. Der Smoking ist aus dem "smoking jacket" verkürzt; die Engländer nennen das edle Teil "dinner jacket", die Amerikaner "tuxedo". Und der Kummerbund - jene für adipöse Smokingträger verhängnisvolle Schärpe - gibt sich als Einheimischer aus, hat aber weder mit Kummer oder Bund zu tun, sondern ist, aus dem fernen Indien nach England einwandernd, als "cummerbund" (Hindi "kamarband") aufgenommen worden. Er wurde schließlich aufgrund seiner irreführend deutschen Aussprache als volksdeutscher Flüchtling willkommen geheißen.

Ein Engländer, der bei feierlichen Gelegenheiten auftaucht, ohne seine Herkunft zu verleugnen, ist der "Cutaway" (wegen der abgeschnittenen Ecken des Gehrocks). In der Kurzform Cut, ausgesprochen "köt", ist der frühere, vergebliche Versuch konserviert, den englischen "but-Laut" im Deutschen adäquat wiederzugeben - ähnlich wie im Pumps mit seiner grotesken Aussprache "pömps". Der einheimische Konkurrent Stresemann (schwarz-graue Hose und mittellange Jacke; nach seinem Erfinder, dem damaligen deutschen Außenminister, benannt) hat den Kampf gegen den englischen Cut längst verloren.

Unter einer Jacke - oder ohne eine solche - wird traditionellerweise das urdeutsche Hemd getragen. Doch dessen Herrschaft ist durch das Shirt - mitsamt seinen Varianten als Sweatshirt, T-Shirt, Achsel-Shirt und Muscle Shirt - stark gefährdet. Diese angloamerikanischen Einwanderer sind halt cooler als das biedere deutsche Hemd. Über diesem trägt man nach Bedarf ein wärmendes Kleidungsstück. In diesem Bereich teilt sich ein englischer Migrant mit einem Scheinasylanten das Monopol: der original englische Pullover mit dem Pullunder, der im Englischen gar nicht existiert, sondern eine deutsche Erfindung ist.

Ausgerechnet für ein inzwischen fast obsoletes Kleidungsstück bewerben sich drei Benennungen - für jenes längliche Stück Stoff, das sich die Männer bis vor kurzem gerne (über dem Hemd natürlich) um den Hals knoteten: Krawatte, Schlips, Binder. Alle drei Bezeichnungen sind heute gebräuchlich: die einheimischen (Schlips und Binder) weniger häufig als die Krawatte - einem Migranten, der auf verschlungenen Wegen ins Deutsche gelangt ist. Dieser bezeichnete ursprünglich die Halsbinde kroatischer Reiter im Dreißigjährigen Krieg, die deutsch "Krawat" hieß, ins Französische als "cravate" gelangte und dann ins Deutsche remigrierte und als Krawatte sesshaft wurde.

Was die früher so genannten Beinkleider betrifft, hält die deutsche Hose immer noch die Stellung, ist jedoch längst von zahlreichen angloamerikanischen Einwanderern umzingelt, die uns spezielle Varianten dieses Kleidungsstücks nahebringen: Shorts und Bermudas - vor allen anderen jedoch von (Blue) Jeans, jenen "eng anliegenden Hosen aus festem Baumwollgewebe von verwaschener blauer Farbe", wie uns der Duden belehrt. Diese haben bereits einen langen Weg zurückgelegt: von franz. Gênes (für das im Baumwollhandel früher bedeutende Genua) zum engl. Jeans, vom festen Stoff zur robusten Arbeitskleidung, von Levi Strauss aus Oberfranken um 1873 für die Goldgräber in Kalifornien erfunden, und dann zum alltäglichen Kleidungsstück und Modeartikel mit vielen Variationen geworden - keine Migranten, sondern Weltenbummler.

Von barfüßigen Sonderfällen (Mönchen, Yogis, Eigenbrötlern) abgesehen, schützt und schmückt der Mensch in unseren Breiten seine Füße - wie auch immer. Im Deutschen ist der Schuh die einzige einheimische Benennung - alle anderen Fußverhüllungen sind Migranten und haben oft einen weiten Weg zurückgelegt. Die Sandale ist im Altertum aus dem Iran nach Griechenland ("sandalion"), dann nach Rom ("sandalium") und später zu uns gewandert. Stiefel und Pantoffel dagegen sind im späten Mittelalter aus dem Französischen ins Deutsche gekommen. Doch die neuen und neuesten Möglichkeiten, sich die Füße zu deformieren, sind - wie eigentlich zu erwarten - englisch-amerikanischer Herkunft: Pumps, Slipper, Sneaker, Boots, High Heels.

Die eigenartigste Weltreisende im Bereich der Mode ist die Boutique, in der man/frau nach wie vor (trotz der Konkurrenz durch das Internet und Shopping Malls) Kleidung kaufen kann: Ihr wurde neben mehreren engen Verwandten in vielen Sprachen Asyl gewährt - neben dem Ausgangswort Apotheke, das aus dem alten Griechenland nach Rom wanderte und ursprünglich "Lagerraum" bedeutete, und neben der spanischen Bodega, die den Männern, die endlos auf ihre einkaufenden Frauen warten, nicht nur in Spanien Trost bietet.

Alles in allem: Im Bereich der Mode und ihrer Sprache gelingt multikulturelle Integration seit jeher problemlos und unauffällig - hier ist die Willkommenskultur unumstritten.