Der brave Arbeiter hat ausgedient

Ein Gespräch mit Vordenker Gunter Dueck: Die meisten Jobs fallen weg. Deshalb muss die Gesellschaft schon heute dringend umdenken

22.04.2016 UPDATE: 04.05.2016 06:00 Uhr 4 Minuten

Von Sebastian Riemer

Seine Thesen haut Gunter Dueck meist lächelnd raus - und schockiert damit immer wieder Politiker und Manager. Denn der 64-Jährige glaubt, dass kaum einer vorbereitet ist auf die Arbeitswelt der Zukunft. Die richtige Antwort auf die Digitalisierung aller Lebensbereiche könnte nur ein völlig neues Bildungssystem, eine andere Führungskultur und eine Ethik unter dem Motto "Begabung verpflichtet" sein.

> Herr Dueck, eine ihrer Kernthesen lautet: Die Digitalisierung vernichtet viele Berufe komplett und entzieht allen Berufen ihre einfachen Anteile.

Richtig. Statt des Postboten kommt dann die Drohne, statt des Taxifahrers ein selbstfahrendes Auto.

> Und wie ist das beim Arzt?

Der verdient so irre wenig für Gespräche mit mir, dass er sich kaum Zeit nehmen kann, mir meine Krankheit zu erklären. Termine gibt’s nach drei bis acht Wochen. Da hat ein halbwegs Internet-gebildeter Mensch schnell selbst nachgeschaut, was er hat. Das soll er nicht, aber das tut er. Wenn ich dann zum Arzt gehe mit meinem geballtem Wissen, schickt dieser erst einmal Proben ins Labor. Und drei Wochen später sagt er mir, was ich schon wusste. Bagatellkrankheiten kann heutzutage jeder selbst behandeln. Das sind die einfachen Anteile, die wegfallen.

> Sie glauben also, dass alle Menschen immer mehr "einfache Dinge" künftig einfach selbst in die Hand nehmen?

Genau. Es ist ja heute schon irrsinnig: Die Bank will, dass ich in ihre Filiale komme - und dann soll ich dort selbst einen Automaten bedienen. Das kann ich zu Hause vor meinem Laptop besser. Ebenso google ich mir meine Aktien selbst zusammen. Weil dann immer weniger klassische Anlageberatung verlangt wird, spart die Bank ein und erhöht den Verkaufsdruck, der Stress der Mitarbeiter steigt - und die Leistung sinkt dann eher.

> Somit steigt auch der Druck auf die Mitarbeiter stetig. Haben bald noch mehr Menschen Burn-Out?

Die Gefahr besteht darin, dass den Mitarbeitern nur die schwierige Arbeit bleibt, weil wir die einfache selbst machen. Hier passieren mehr Fehler, auch gravierende. Da droht Dauerstress! Man braucht Vermeidungsstrategien dafür.

> Sie sagen: Die besten Mitarbeiter sind "glücklich zeitvergessene Menschen". Wie sorgen Firmen dafür, dass ihr Personal sich so fühlt?

Sie müssen ihren Leuten erlauben, im "Flow" zu arbeiten. Es gibt eine optimale Stresskurve für Menschen. Zu wenig Stress? Man ist gelangweilt, wird aggressiv und macht trödelnd Mist. Zu viel Stress? Man wird verrückt und macht dauernd Fehler. Aufgabe des Chefs ist es, die Mitarbeiter in der Mitte zu halten. Aber die meisten Manager verstehen nicht, dass akademisch wertvolle, inhaltliche Arbeit ein niedrigeres Stressniveau erfordert. Denn die Bosse sitzen dauernd nur in Meetings und kämpfen - die sind viel höhere Stresslevel gewöhnt. Und so kommt ihnen die optimale Zone für die Mitarbeiter viel zu entspannt vor.

> Sie fordern als Vorbereitung auf diese viel komplexere Arbeitswelt völlig neue Bildungsziele - etwa Empathie, Kreativität, Wille und ein Talent, andere Menschen zu begeistern. Wie bringen wir das unseren Kindern bei?

Heutzutage zeigt man Schülern viele Beispiele für das Weltmeisterniveau: die größten Dramen, die größten Sportler, die schönsten Kunstwerke, die neunte Symphonie von Beethoven. Und das sollen sie dann irgendwie auf niedrigem Niveau kopieren. Das reicht aber nicht mehr. In Zukunft steht viel mehr das Können im Vordergrund, weniger das Wissen. Aber es gibt schon heute einige Reformschulen, die versuchen, die Eigeninitiative zu fördern.

> Was machen die Reformschulen denn überhaupt besser?

Sie lassen ihre Schüler relativ komplexe Projekte stemmen. Die Oskar-von-Miller-Schule in Kassel etwa, eine Berufsschule, hat den Klassenverband weitgehend aufgelöst. Dort sieht es aus wie in einem Massenbüro. Die Schüler kriegen am Montagmorgen eine Aufgabe, irgendetwas zu bauen. Bis Freitag muss es fertig sein, dann wird es fotografiert, auf die Website gestellt - und darauf können sie direkt bei einer Bewerbung verweisen. Das finde ich sinnvoll.

> Doch auch wenn wir unser Bildungssystem umstellen, können wir nicht alle Menschen dahin bringen, extrem komplexe Aufgaben auszuführen.

Warum nicht? In meiner Jugend glaubte auch keiner, dass irgendwann jeder Zweite Abitur macht und jeder Dritte studiert. Wir stehen vor dieser Herausforderung und müssen irgendwie darauf reagieren. Ich finde es wichtig, sich zu überlegen, was der moderne Mensch braucht für dieses neue Zeitalter.

> Anders gefragt: Ist es überhaupt noch sinnvoll, auf ein Wirtschaftssystem zu setzen, das die Grundlage des individuellen Wohlstands in Erwerbsarbeit sieht? Warum kein bedingungsloses Grundeinkommen?

Nun, das muss bezahlbar sein - man muss darauf vertrauen können, dass doch immer genug Leute echt arbeiten. Ein Beispiel: Wenn jemand vor dem Abitur schlecht in der Schule ist und zum 18. Geburtstag sein erstes Grundeinkommen überwiesen bekommt - streckt der sich dann noch fürs Abi? Ich will sagen: Es ist schwer vorherzusagen, ob "danach" noch genügend Menschen arbeiten.

> Sie haben mal angeregt, ins Grundgesetz schreiben zu lassen: "Begabung verpflichtet". Wozu?

Weil wir eine Ethik brauchen, die gewährleistet, dass die Menschen möglichst viel aus sich machen. Eltern sollten ihren Kindern beibringen, dass sie ihre Talente in die Gesellschaft einbringen müssen. Dann mag auch ein bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren. Deshalb: "Hirn verpflichtet!" Nicht nur Eigentum.

> Sie fordern auch einen Erziehungsführerschein. Wozu?

Wir müssen Kinder für ein neues digitales Zeitalter erziehen, in dem viele Eltern noch gar nicht sind. Da droht doch Chancenlosigkeit für viele Kinder, deren Eltern nur Kurse im Windelwechseln bekamen und lernten, wie das Kind durchschläft oder so.

> Wer sollte denn die Inhalte und Kriterien eines solchen Führerscheins festlegen?

Schauen Sie auf die Kopfnoten der Grundschule: Fleiß, Betragen, Ordnung, Mitarbeit. Die besagen: Wir wollen einen braven Arbeiter aus dir gemacht sehen. Dieses Menschenbild braucht einen Uplift. Die jetzt Braven sollten Erziehung nicht zu sehr an sich selbst orientieren.

> Wie wird sie aussehen, die Gesellschaft des Jahres 2030 in Deutschland?

Das bestimmen doch hoffentlich wir selbst! Aber wir müssen uns eben entscheiden. Sollten wir keine "Exzellenzgesellschaft für alle" anstreben, droht uns eine Schere zwischen Elite und Slum. Statt immer von der Schere zwischen Arm und Reich zu sprechen, sollten wir von der Bildungsschere sprechen: Zehn Prozent aller Deutschen haben die Hälfte der Gesamtbildung im Kopf. Und daran können wir etwas ändern.

> Was also muss die Politik jetzt tun?

Endlich darüber diskutieren, welchen Menschen wir für unsere Zukunft wollen. Es braucht ein Programm für einen heiter gestimmten, professionellen Menschen, der gerne arbeitet und zwar im "Flow". Wir müssen weg von einer Gesellschaft des Gehorsams, hin zu einer Gesellschaft der Netzwerke. Und wir brauchen neue Führungs- und Erziehungsprinzipien.