Freiburg sieht sich wegen Elfmeterpfiff als Kampagnen-Opfer

Freiburgs Trainer Christian Streich und SC-Präsident Fritz Keller sind sauer. - "I hab’s net glaube könne"

16.10.2016 UPDATE: 17.10.2016 06:00 Uhr 1 Minute, 59 Sekunden

Emotional: SC-Trainer Christian Streich (r.), hier in der Schlussphase mit dem vierten Offiziellen. Foto: APF

Von Roland Karle

Sinsheim. Fritz Keller ist ein überaus erfolgreicher Winzer und Hotelier. Am Kaiserstuhl betreibt er das exquisite Sterne-Restaurant "Schwarzer Adler", bei Aldi hat er schon massentauglich seine "Edition Fritz Keller" unter die Leute gebracht. Andere Menschen für sich und seine Sache zu gewinnen, das beherrscht der Mann. Im Job ebenso wie in seinem Ehrenamt als Präsident des Fußball-Bundesligisten SC Freiburg.

Am Samstag trieb es ihn ganz besonders, seine Überzeugung anderen kundzutun. Nach Spielschluss wirbelte Keller durch den Presseraum und die Katakomben des Sinsheimer Rhein-Neckar-Stadions, als sei er die Vorhut einer Drückerkolonne, die neue Handyverträge vertickt. Jedem, der es sehen wollte oder auch nicht, hielt der 59-Jährige sein Smartphone vors Gesicht. Darauf zu erkennen: die Szene, die Freiburgs Niederlage herbeiführte.

"Der Caglar", sprach Keller, und es klang auf Südbadisch, als ging es um eine radiobekannte Autoglasreparaturwerkstatt, "der Caglar geht zum Kopfball und der Andere rennt in ihn rein." Caglar Söyüncü, der hier gemeint ist, drückte im beschriebenen Duell TSG-Kapitän Sebastian Rudy zu Boden. Es folgten ein Pfiff von Schiedsrichter Deniz Aytekin, wütende Proteste der Freiburger, ein Strafstoß und der Sieg für Hoffenheim.

Für Keller ein Akt schreiender Ungerechtigkeit. Ein Ärgernis, das er nicht zu Hause mit einem guten Viertele einfach herunterspülen wollte. Zu aufgewühlt war der Keller-Geist, um sich in präsidialer Zurückhaltung zu üben.

Christian Streich ging es ähnlich. Zu Beginn seiner Spielanalyse hatte Freiburgs Trainer noch versucht, die Elfer-Szene verbal zu umschiffen. Doch dann platzte es aus ihm heraus. Von "den Machenschaften" dieser Woche wollte sich seine Mannschaft bewusst nicht provozieren lassen. "I hab‘s net glaube könne, als ich’s im Trainerbüro erfahre hab’. Wir werde als die ,aggressive leader‘ dargestellt. Wir, der SC Freiburg!" Die Mannschaft, die sich in der letzten Saison die wenigsten Fouls in der 2. Liga erlaubte.

Worauf sich Streichs Schelte bezog: Hoffenheims Manager Alexander Rosen hatte vor dem Spiel von Freiburgs "aggressiver Spielweise" gesprochen, "die sich teilweise im Grenzbereich bewegt." Auch der SC-Trainer, der einen herausragenden Job mache, "peitscht seine Mannschaft im Grenzbereich nach vorne", so Rosen. Streich wiederum empfand das als Grenzüberschreitung. Er bezeichnete die Aussagen als Versuch einer "Kampagne" - und sah sich nach dem 1:2 bestätigt. "Ich habe schon viele Spiele verloren, damit kann ich leben. Aber dass wir die Klopper sein sollen, das ist unglaublich. Warum wird ein Spiel so angeheizt? Und dann bekommen wir einen fragwürdigen Elfmeter gegen uns - und den auf der anderen Seite für uns nicht."

Der SC-Coach fühlte sich am Samstag mindestens so schwer verunglimpft wie ein Klassikpianist, der unter Heavy-Metal-Verdacht geraten ist. Das Schlimmste daran: Seine düstere Vorahnung hat sich bewahrheitet.

Derweil wusste TSG-Manager Rosen gar nicht, weshalb er sich rechtfertigen oder gar entschuldigen sollte. "Aggressivität gehört zum Fußball, das ist keine Kritik. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass sich Freiburg auch in dieser Hinsicht weiterentwickelt hat." Und zwar, wie er betonte, im Rahmen des Erlaubten. Eben "im Grenzbereich". Rosen will das als Kompliment verstanden wissen.

Ernst gemeintes Lob? Böse Absicht! Für den Freiburger Elfer-Rat mit Streich und Keller an der Spitze war, ohne ihn namentlich zu nennen, Rosen als Übeltäter überführt. Und die eigene Opferrolle unbestreitbar.

Hintergrund

Sinsheim. (wok) Der SC Freiburg, der am Samstag zum Baden-Derby in der Rhein-Neckar-Arena antrat, gilt allgemein als friedlicher und gesitteter Verein, der eine gute Jugendarbeit betreibt, vielerlei Alternativen zur Konkurrenz bietet und immer wieder aus eigenen Kräften das

[+] Lesen Sie mehr

Sinsheim. (wok) Der SC Freiburg, der am Samstag zum Baden-Derby in der Rhein-Neckar-Arena antrat, gilt allgemein als friedlicher und gesitteter Verein, der eine gute Jugendarbeit betreibt, vielerlei Alternativen zur Konkurrenz bietet und immer wieder aus eigenen Kräften das Abenteuer Bundesliga in Angriff nimmt.

Das mag alles sein. Auf einen Teil seiner Fanszene trifft das allerdings so ganz und gar nicht zu. Diese Gruppe wird in Polizeikreisen zu den brutalsten Schlägern der Bundesliga gezählt. Das weiß man jetzt auch in Sinsheim.

So lieferten sich am Samstag gegen 13 Uhr knapp 50 SC-Hooligans mitten in der Stadt eine wüste Schlägerei mit der Polizei, in deren Folge es fünf Festnahmen und zehn Verletzte, darunter auch zwei Polizisten, gab. Gleichzeitig zertrümmerten rund 50 weitere SC-Schläger - offenbar alkoholisiert - einen Zug der Stadtbahn, der ab Bretten-Bauerbach nicht mehr weiterfahren konnte.

Bereits am Vormittag trafen gegen 10 Uhr rund 30 bis 40 "Fans" einer Ultragruppierung des SCF in Sinsheim ein und hielten sich in einer Gaststätte in der Fußgängerzone auf. Ebenfalls früh unterwegs war eine etwa gleich große Anzahl TSG-Anhänger. Um ein Hochschaukeln erster, ausschließlich verbaler Auseinandersetzungen und daran anschließend ein Aufeinandertreffen beider Lager zu verhindern, sperrten Einsatzkräfte zunächst die Bahnhofstraße sowie kleinere Seitenstraßen ab.

Kurz nach 12 Uhr sollten die Freiburger Fans mit einem Linienbus zum Stadion gebracht werden. Als Einzelne von ihnen die Polizeiabsperrungen umgehen wollten, kam es an der Elsenzbrücke zur Schlägerei mit der Polizei (s. "Übrigens"), bei der Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt wurden. Ein "Fan" mit einer Kopfplatzwunde wurde zur Behandlung in die Klinik eingeliefert.

Sechs Verletzte wurden später am Stadion medizinisch versorgt. Vier Fans wurden vorläufig festgenommen. Zwei davon wurden nach Personalienfeststellung auf freien Fuß gesetzt; zwei blieben bis zum Spielbeginn im Polizeigewahrsam. Gegen sie wird wegen des Verdachts des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt.

Nach dem Spiel trafen Fans beider Lager am Treppenaufgang zum Parkplatz P 9 erneut aufeinander. Nur mit Pfefferspray konnten beide Gruppen auseinandergehalten werden. Ein Fan erlitt Augenreizungen. Eine Stunde nach Spielende hatte sich die Lage beruhigt.

[-] Weniger anzeigen
Hintergrund

Von Joachim Klaehn

Sinsheim. Mitunter genügt es, den Kontrahenten zu entscheidenden Fehlern zu zwingen. Dies und ein bisschen mehr gelang Bundesligist TSG 1899 Hoffenheim im badischen Duell mit dem SC Freiburg. Schon im Vorfeld kam es zu Debatten über Aggressivität und

[+] Lesen Sie mehr

Von Joachim Klaehn

Sinsheim. Mitunter genügt es, den Kontrahenten zu entscheidenden Fehlern zu zwingen. Dies und ein bisschen mehr gelang Bundesligist TSG 1899 Hoffenheim im badischen Duell mit dem SC Freiburg. Schon im Vorfeld kam es zu Debatten über Aggressivität und Fouls, die wiederum zu Aufregern, Irritationen und Missverständnissen führten. Der Sportclub Freiburg sprach von einer Kampagne - und fühlte sich auf Grund der Dramaturgie am Wochenende bestätigt. Rein sportlich und rational betrachtet war es freilich kein hitziges und erst recht kein überhartes Bundesliga-Match, sondern ein von Taktik maßgeblich geprägtes Kräftemessen, das "Hoffe" glücklich, aber nicht unverdient mit 2:1 (1:0) vor 28.540 Zuschauern in der Rhein-Neckar-Arena für sich entschied.

"Wir haben Aufwind", sagte TSG-Mittelfeldmotor Lukas Rupp in den Katakomben wohltuend realistisch, "und momentan das Glück auf unserer Seite, was wir so weiter mitnehmen wollen." Hoffenheim ist nach dem dritten Dreier in Serie auf Rang sechs im Tableau geklettert und darf auf die "Dynamik in Erfolgssituationen" (Manager Alexander Rosen) bauen.

Die nicht hochklassige, aber spannende Partie, in der sich die Rivalen aus Nord- und Südbaden lange gegenseitig neutralisierten, lässt sich vornehmlich an einer tragischen Figur festmachen. Freiburgs junger Türke Caglar Söyüncü erlebte in komprimierter Form alle Facetten des Innenverteidiger-Daseins. Erst unterlief ihm ein furchtbarer Fehlpass, der zum 1:0 für die Hausherren durch Sandro Wagner (34.) führte. Später rettete der 20-Jährige in höchster Not gegen den alleine durchspazierenden Kerem Demirbay (50.) - und dann spielte er einen wunderbaren Diagonalball auf Florian Niederlechner, der perfekt und gefühlvoll zum 1:1 (78.) vollendete. Dass "Engelsgesicht" Söyüncü schließlich Sebastian Rudy allzu ungestüm im Sechzehner zu Fall brachte, gehörte zur bitteren Lehrstunde für den Mann, der im Sommer vom türkischen Zweitligisten Altinordu Izmir in den Breisgau gewechselt war. Andrej Kramaric chipte den Strafstoß aufreizend lässig zum 2:1 (81.) ins Freiburger Netz.

"Wir haben einen blöden Elfmeter bekommen", sagte hinterher der Ex-Hoffenheimer Vincenzo Grifo, "ich glaube, dass es keiner war." Sein Teamkollege Christian Günter sprach von einer "sch … Niederlage" und "brutalen Entscheidung". Die Sportclub-Seele kochte.

TSG-Cheftrainer Julian Nagelsmann war unterdessen klug, keinen weiteren Stoff für Christian Streichs Verschwörungstheorien zu liefern. "Es gibt Kann- und Muss-Elfmeter - das war kein Muss-Elfmeter. Andererseits darf man schon fragen, ob Söyüncü so in den Mann reinspringen muss", bewertete Nagelsmann die kniffligste Szene salomonisch. Wie dem auch sei: Schiedsrichter Deniz Aytekin deutete sofort auf den Punkt - und bei der nächsten strittigen Szene (85.) zwischen Ermin Bicakcic und Niederlechner ("Der kreuzt mich hinten, oben spüre ich den Ellenbogen und unten gibt er mir einen Gehfehler") eben nicht.

Was Unglücksrabe Söyüncü für den SC Freiburg, war Sandro Wagner für seine TSG - auffallend und spielentscheidend. Nicht nur wegen seines Treffers aus spitzem Winkel, sondern vor allem wegen seiner Ausstrahlung. Es hatte zuweilen den Anschein, als beschäftigen sich die gesamte SC-Mannschaft, die Ersatzbank und auch die Gästefans nur noch mit dem Hünen. "Sandro kriegt sehr viel auf die Socken. Er strahlt genau jene Abgezocktheit aus, die wir im Team haben wollten", sagte Nagelsmann.

Immer wieder animierte Hauptdarsteller Wagner das Publikum, lenkte den Fokus auf sich, schickte eine Kurzbewerbung ans Heidelberger Stadttheater und nahm geschickt Zeit von der Uhr - ein Polarisierer par excellence.

Trotz der Erfolgsserie und dem gestiegenen Selbstvertrauen bleibt TSG-Regisseur Nagelsmann auf dem Teppich. Es ginge immer sehr schnell im Fußball in alle Richtungen. "Ich hab’ die Tabelle gar nicht angeschaut, sie ist mir piepegal", meinte Nagelsmann ohne Koketterie gegenüber einer kleinen Journalistenrunde. Vielmehr erfreut sich "Nagel" an den Entwicklungsschritten - auch dank der fünf Neuzugänge Wagner, Rupp, Demirbay, Vogt und Hübner, die vorgestern zur Startelf gehörten. "Die ganze Mannschaft ist gewillt, die ganze Mannschaft vertraut Julian und setzt das um, was er vorgibt", so Kapitän Rudy über die schöne Momentaufnahme und das Erfolgsrezept. Nagelsmann empfahl derweil vor der nächsten Aufgabe am Samstag bei Bayer Leverkusen den Chronisten: "Loben Sie die Mannschaft - und nicht mich!" Tun wir. Das TSG-Team ist robuster, stabiler und cleverer geworden - ohne Hurra-Fußball zu zelebrieren.

[-] Weniger anzeigen
(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.