Ministerpräsident Kretschmann: "Wer mehrfach straffällig wird, der hat sein Bleiberecht verwirkt"

Winfried Kretschmann im RNZ-Interview zu sexuellen Übergriffen und dem Umgang mit Flüchtlingen.

22.01.2016 UPDATE: 23.01.2016 06:00 Uhr 6 Minuten, 15 Sekunden

Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der RNZ-Redaktion, flankiert von Chefredakteurin und Geschäftsführerin Inge Höltzcke und Chefredakteur Klaus Welzel. Foto: Johannes Hoffmann

Von Klaus Welzel und Sören S. Sgries

Als Ministerpräsident hatte Winfried Kretschmann (67) bisher noch nicht die Rhein-Neckar-Zeitung besucht, dafür nahm er sich Freitagmittag ein wenig mehr Zeit: In der großen Redaktionsrunde und im Interview musste der Grüne natürlich zuerst seine Flüchtlingspolitik erklären.

Herr Ministerpräsident, für Ihren CDU-Herausforderer Guido Wolf ist es schwierig geworden, seit Sie permanent Bundeskanzlerin Angela Merkel loben. Ist das politische Taktik, den Gegner zu umarmen?

Nein. Das ist Überzeugung. Die Politik der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise findet meine Unterstützung. Es besteht die Gefahr, dass das Flüchtlingsthema Europa auseinander treibt. Wenn das geschähe, wäre das eine epochale Katastrophe. Nationalstaaten allein können in unserer globalisierten Welt in so vielen Fragen nichts mehr bewegen. Wir brauchen deshalb mehr Europa. Das bewegt die Kanzlerin und mich. Deshalb agieren wir ähnlich. Das hat mit Taktik nichts zu tun.

Wenn es nach dem 13. März an die Bildung einer Koalition geht: Gibt es in der Flüchtlingsfrage einen Punkt, der unbedingt erfüllt sein muss, sonst koalieren Sie nicht?

Koalitionsverhandlungen führen wir nach und nicht vor der Wahl. Aber von der Grundlinie, die Flüchtlingskrise europäisch zu lösen, werde ich nicht abweichen, so lange es dafür noch eine Chance gibt. Dieses Vorhaben kann natürlich auch misslingen.

Misslingen - und das aus dem Mund eines grünen Ministerpräsidenten?

Wir können daran scheitern, in europäischer Solidarität die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Aber ich bleibe optimistisch. Darüber hinaus: Fluchtursachen wie etwa Bürgerkriege kann nur die internationale Gemeinschaft bewältigen. Genau da sehen wir aber, dass Europa noch nicht weit genug in der Einigung ist. Es fehlt eine gemeinsame europäische Armee, eine gemeinsame europäische Außenpolitik.

Zu den Flüchtlingen, die bereits in Deutschland sind, sagten Sie: Wer straffällig wird, soll ausgewiesen werden. Weshalb schiebt Baden-Württemberg trotzdem nur halb so viele Menschen ab wie Bayern?

Das trifft einfach nicht zu. Wir weisen vergleichbar dieselbe Größenordnung aus wie Bayern. Wir zählen aber etwas anders. Außerdem hat Bayern 160.000 Flüchtlinge im Land, wir 100.000, bezogen auf 2015. Wir führen die ab, die kein Bleiberecht haben und die wir zurückführen können. Es liegt zum großen Teil überhaupt nicht an uns, wenn es nicht schneller geht. Diejenigen, die wir ausweisen wollen, müssen schließlich auch von ihren Staaten wieder aufgenommen werden.

Wie sieht es mit Straftätern aus - ab welcher Straftat sehen Sie Abschiebungsgründe?

Wer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt ist, wer mehrfach straffällig wird oder wer gemeinschaftlich Straftaten begeht, der hat sein Bleiberecht verwirkt. Wir unterstützen da die Absichten der Bundesregierung. Alles, was wir über Köln wissen, zeigt: Für die Menschen, die dort diese Untaten angerichtet haben, passt der Begriff Flüchtlinge überhaupt nicht. Das sind Menschen, die schon kriminell hierherkommen. Auf diese die Kategorie Flüchtlinge anzuwenden, weigere ich mich. Wir registrieren allerdings, dass aus Nordafrika verstärkt Gruppen kommen, die kriminelle Biografien haben und eine hohe kriminelle Energie.

Sind Sie also dafür, die Maghreb-Staaten zu Sicheren Herkunftsstaaten zu erklären?

Diesen Vorschlag muss die Bundesregierung uns vorlegen. Ich habe kein Auswärtiges Amt, es ist nicht meine Aufgabe, das zu prüfen. Freihändig irgendein Land zu einem Sicheren Herkunftsland zu erklären, das werde ich nicht machen. Aber ich habe mich immer offen gezeigt, entsprechende Entscheidungen zu treffen, wenn es notwendig und für mich plausibel ist.

Auch in Marokko und Tunesien gibt es teilweise Folter. Wie unterscheiden Sie zwischen dem Asylberechtigten und dem Nicht-Berechtigten?

Das wird immer individuell geprüft. Die Frage der Sicheren Herkunftsländer wird daher überschätzt. Das war schon bei den Balkan-Staaten so. Die Maghreb-Staaten haben eine sehr geringe Anerkennungsquote. Aber auch hier gilt, würden einzelne dieser Länder zu sicherem Herkunftsland erklärt werden, müsste weithin der Einzelfall geprüft werden. Das verlangt das Bundesverfassungsgericht. Entscheidend sind schnelle Verfahren. Das liegt aber in der Hand des Bundes-Flüchtlingsamts Bamf, das die Entscheider hat. Es dauert zu lange, bis dort endlich mehr Personal zur Verfügung steht. Da muss der Bund endlich in die Puschen kommen.

Würde es den Umgang mit Maghreb-Flüchtlingen nicht erleichtern?

Auch hier sind wir schon tätig geworden: Anträge dieser Flüchtlinge wandern momentan ganz oben auf die Entscheider-Stapel. Und die Straffälligen noch einmal höher, weil wir auf keinen Fall problematische Gruppen in die Kommunen schicken wollen.

Sind Sie eigentlich manchmal überrascht über das, was Sie inzwischen so sagen, als grüner Hardliner?

Nein. Ich hatte immer eine klare Haltung und kann nicht erkennen, dass sich da grundlegend etwas geändert hat.

Als die CSU 2014 sagte "Wer betrügt, fliegt", gab es einen riesigen Aufschrei. Ihr Satz ist jetzt nicht so weit davon entfernt.

Man muss immer sehen, in welchem Zusammenhang man etwas sagt. Köln - das sind völlig neue Straftaten. Das sind Horden von Männern, die Frauen einkreisen, um sie zu berauben, sexuell zu belästigen und Schlimmeres. Das ist schon mal was anderes als vereinzelter Sozialbetrug. Und: Bei deutschen Straftätern sage ich doch auch nicht: Alle Deutschen in den Knast. Deswegen muss ich jetzt auch nicht Ressentiments gegen Flüchtlinge schüren. Aber ich muss zeigen, dass wir eine wehrhafte Demokratie sind und uns sowas nicht bieten lassen.

Vor dem Jahreswechsel gab es sehr viele freiwillige Helfer, Flüchtlinge wurden nicht nur in München freundlich begrüßt. Jetzt ändert sich die Stimmung. Gab es ein falsches Bild vom "edlen Flüchtling"?

Wir sind sehr froh und dankbar über das große Engagement. Ohne die Ehrenamtlichen hätten wir das alles nicht stemmen können. An der Willkommenskultur für die, die hier Bleiberecht haben, halten wir fest. Jene, die nicht anerkannt werden und kein Bleiberecht bekommen, schicken wir zurück.

Die Emanzipationsbewegung ist eine feste Wurzel Ihrer Partei. Was sagen die Frauen an der grünen Basis zur veränderten Lage in der Gesellschaft?

Wir dürfen nicht so tun, als sei sexuelle Belästigung ein neues Phänomen. Wir müssen klar sehen: Dass man Frauen in der Öffentlichkeit begrapscht oder ihnen gar in den Schritt greift, ist nirgendwo auf der Welt erlaubt. Auch nicht im Algerien oder in Ägypten. Die Täter in Köln wissen, dass es "böse Dinge" waren, um es etwas einfach zu formulieren. Wir müssen nicht so tun, als kämen da neue Kulturen mit merkwürdigen Sitten. Jeder weiß, dass solche Übergriffe nicht gehen. Egal, aus welcher Gesellschaft man kommt. Und ich bin froh, dass nach den Ereignissen von Köln nun auch die CDU bereit ist, das Sexualstrafrecht zu verschärfen, wie wir das schon lange fordern. Es muss hier ganz klar sein: Nein heißt nein.

Dass Frauen eingekesselt und belästigt werden, ist aber neu.

Ja, das sind völlig neue Straftaten. Da müssen wir die Reißleine ziehen, da gibt es keine Rabatte. Wirklich keine. Aber wir können diese Leute erst dann richtig verfolgen, wenn das Strafrecht seine Lücken geschlossen hat. "Begrapschen" gibt es bislang noch nicht einmal als Straftatbestand, die Initiative dazu ist lange im Bundeskanzleramt hängen geblieben. Das wird erst jetzt geändert.

Der Bürgermeister von Hardheim wurde für seinen Ratgeber für die "liebe fremde Frau, lieber fremder Mann" deutschlandweit verhöhnt. Hatte er nicht aber Recht mit seinen Erklärungen von der Mülltrennung bis zum Umgang zwischen Männern und Frauen?

Wir geben ja selbst solche Leitfäden raus. Dieser war zu paternalistisch formuliert. Aber ich habe ihm persönlich gesagt: Solange Sie keine größeren Fehler machen, werden Sie ein guter Bürgermeister sein. Ich werde niemanden, nur weil er etwas unglücklich formuliert, in die Pfanne hauen.

Zum Thema Flüchtlingsregistrierung: Ist es immer noch möglich, dass sich Flüchtlinge an verschiedenen Orten mehrfach registrieren lassen?

Sobald wir einen einheitlichen Flüchtlingsausweis haben - und der soll ja in Kürze hier in Heidelberg ausgegeben werden -, dann ist das zu Ende. Die gesetzliche Grundlage hierfür wird bereits kommende Woche im Bundesrat behandelt.

Eine Sorge der Bürger: grenzübergreifende Kriminalität. Wären da nicht mehr Kontrollen angebracht?

Natürlich kann offene Grenzen jeder überqueren, auch ein Krimineller. Wir wollen aber deswegen doch Schengen nicht aufgeben. Wir bekämpfen Kriminalität allgemein, dort, wo sie auftritt. Und dafür brauchen wir eine starke Polizei. Deshalb haben wir den Personalabbau der Vorgängerregierung bei der Polizei nicht nur gestoppt, sondern fast 400 neue Stellen geschaffen. Noch nie in den letzten 20 Jahren wurden so viele Polizisten ausgebildet wie unter Grün-Rot. Fakt ist: Baden-Württemberg ist mit das sicherste Land in Deutschland.

Gibt oder gab es Anweisungen an die Polizei, die Nationalität von Straftätern zu nennen oder zu verschweigen?

Die Linie ist ganz einfach: Wir spielen nichts hoch, wir spielen nichts runter, wir suchen die Wahrheit in den Tatsachen. Die Herkunft wird genannt, wenn es zur Beschreibung der Straftat notwendig ist. Das findet in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft statt. Weisungen auf etwas zu verzichten, gibt es da nicht. Man darf nicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme etwas verschweigen. Da hat die Öffentlichkeit ein Anrecht zu wissen, ob ausländische Banden tätig sind.

Wird die Flüchtlingsfrage die Wahl am 13. März entscheiden?

Ich bin Ministerpräsident, kein Prophet. Doch natürlich wird dieses Thema die Wahl beeinflussen.

Für Grün-Rot sieht es derzeit nicht so gut aus in den Umfragen. FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke hat im RNZ-Gespräch als Bedingung für eine "Ampel" eine "180-Grad-Wende" gefordert. Ist damit diese Koalitionsoption vom Tisch?

Wir wollen ja gar keine Ampel, sondern weiter gemeinsam mit den Sozialdemokraten regieren. Und ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Dazu kommt: Der Wahlkampf hat gerade erst begonnen. Koalitionsverhandlungen führt man doch erst hinterher. Dass jetzt eine Partei anderen im Wahlkampf schon Koalitionspunkte vorlegt, das habe ich noch nie erlebt.

Also ein lächerliches Ansinnen, auf das Sie jetzt nicht reagieren werden?

Nein. Das klärt man in Sondierungsverhandlungen. Man weiß noch nicht einmal, ob die FDP überhaupt in den Landtag kommt. Wer aber mit fünf Prozent meint, einen Politikwechsel fordern zu können, das finde ich dann doch nicht so richtig nachvollziehbar.

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