"Unser größtes Problem ist die Kinderarmut"

Ex-Sozialrichter Jürgen Borchert: Ökonomisches Denken ist nachwuchsblind - Geplante Hartz-Korrekturen sind nur ein Bluff

20.03.2017 UPDATE: 21.03.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 26 Sekunden

Jürgen Borchert. Foto: dpa

Von Michael Abschlag

Heidelberg. Jürgen Borchert, ehemaliger Sozialrichter und Autor ("Sozialstaatsdämmerung") hält die von der SPD geforderten Hartz-Korrekturen für unzureichend - und fordert größere Änderungen.

Herr Borchert, warum halten Sie das Arbeitslosengeld Q der SPD für einen Bluff?

Ein Politiker sollte wie ein Arzt drei Schritte vollziehen: erst den Befund, dann die Anamnese - also die Analyse der Ursache - und schließlich der Therapie. Und dann sollte er die wichtigsten Probleme zuerst anpacken, wie die Putzfrauen, die zuerst die obersten Treppenstufen putzen. Der Vorschlag von Martin Schulz ist aber nur ein Wischen auf der untersten Stufe. Die Dauer des Arbeitslosengeldes war doch nicht die Ursache der Massenarbeitslosigkeit, die als Legitimation für die Agenda 2010 hergehalten hat.

Sondern?

Die Euroeinführung und der Währungsverbund. Deutschland ist da mit einem schlechten Wechselkurs hineingegangen, weil die D-Mark viel zu hoch bewertet war. Wir hatten den höchsten Realzins im Euroraum, und das führte dazu, dass etwa eine Billion an Kapital ins Ausland geflossen ist. Damit gingen auch die Arbeitsplätze verloren. Das Geld wanderte dann im Zuge der Finanzkrise 2007/2008 zurück und damit auch Arbeitsplätze. Das hatte mit den Hartz-Reformen nichts zu tun.

Sie bezeichnen die Hartz-Reformen als infam.

Seit der ersten deutschen Arbeitsmarktkrise Mitte der 60er Jahre war es in Deutschland Konsens, dass der Staat die Verantwortung für den Arbeitsmarkt trägt, also dafür sorgt, dass möglichst Vollbeschäftigung herrscht. Mit dem Euroeintritt haben wir den wichtigsten Hebel zum Schutz des heimischen Arbeitsmarktes aus der Hand gegeben. Das war die Ursache für den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Statt das zu erkennen, hat man die Mär von der "sozialen Hängematte" in die Welt gesetzt. Die Schuld wurde den Arbeitslosen gegeben. Das Gegenteil ist der Fall: Noch nie in der deutschen Geschichte war Arbeitslosigkeit so wenig die Schuld der Arbeitslosen selbst.

Verteidiger der Agenda 2010 verweisen darauf, dass in Deutschland dadurch Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Die Deregulierung des Arbeitsmarktes hat dazu geführt, dass Arbeit in Deutschland billiger wurde als im Rest der EU. Bis heute haben wir den niedrigsten Mindestlohn und den größten Niedriglohnsektor. Der Anteil der prekär Beschäftigten ist nach wie vor hoch. Dadurch haben wir zudem unseren europäischen Nachbarn das Wasser abgegraben.

Was müsste dann jetzt Ihrer Meinung nach getan werden?

Unser größtes Problem sind die jungen Arbeitslosen, die zu Hunderttausenden die Schule als funktionale Analphabeten verlassen und selbst für Hilfsarbeiten kaum infrage kommen. Da hätte die Qualifizierung schon in frühester Kindheit beginnen müssen. Diese jungen Menschen bekommen oft mangels entsprechender Vorbeschäftigung überhaupt kein Arbeitslosengeld I.

Das bedeutet, dass in die Ausbildung am meisten investiert werden müsste?

Ja, natürlich. Das fängt in der Schule an und in den Familien, die man in den Stand versetzen muss, sich mit ihrem Einkommen über Wasser zu halten. Das ist auch ein Problem unseres Sozialversicherungssystems.

Was ist das Problem bei den Sozialversicherungen?

Bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen alle den gleichen Beitragssatz, egal ob Kinder da sind oder nicht. Für Eltern mehrerer Kinder wirkt das finanziell erdrosselnd. Freibeträge für die Kinder nach dem Vorbild der Lohnsteuer wären das Mindeste. Dass es die nicht gibt, verursacht unser größtes Problem, die Kinderarmut. Seit 1964 hat sich der Anteil der Kinder, die von Sozialhilfe abhängig sind, versechzehnfacht! Und dabei haben sich die Geburtenzahlen halbiert.

Wieso steigt die Kinderarmut?

Zum einen stiegen die Sozialbeiträge seit damals auf das Doppelte. Zum anderen liegt es an einem ökonomischen Denken, das nachwuchsblind ist. In den Rechenwerken der Ökonomen sind die Privathaushalte per Definition der Ort nur des Konsums, obwohl dort die wichtigsten Investitionen getätigt werden, nämlich in die Kindererziehung. Friedrich List, neben Karl Marx unser größter Ökonom des 19. Jahrhunderts, hat es so formuliert: Wer Schweine großzieht, gilt als produktiv, wer Kinder großzieht, nicht. Statt diese epochale Verirrung anzugehen, will sich Martin Schulz lieber um ein paar tausend arbeitslose Senioren kümmern. Das ist Flucht vor der Zukunft.