Verfolgt, aber nicht vergessen

Am Mittwoch wurden 24 Stolpersteine verlegt, die an Heidelberger NS-Opfer erinnern

20.11.2012 UPDATE: 20.11.2012 08:31 Uhr 5 Minuten, 43 Sekunden
Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt in der Uferstraße 20 die acht Stolpersteine, die an die Familien Gustav Hochherr und Arthur Weill erinnern, die bis 1938 hier wohnten. Foto: Kresin

Von Micha Hörnle

Zum dritten Mal wurden am Mittwoch in Heidelberg Stolpersteine an acht Orten verlegt - seit 2010 sind es nun insgesamt 60 quadratische Messingplatten. Aktuell wurde weiterer 24 Verfolgter des NS-Regimes gedacht. In der Kaiserstraße 29 nahmen auch Nachkommen des Zigarrenfabrikanten Ferdinand Hochherr teil, die auch selbst sprachen: Allen voran seine Enkelin Ellen Mandel (77) aus New York, aber auch Paul Eric Joseph, der mit seinem Bruder Dani nebst Ehefrauen aus den Niederlanden angereist war. Gemeinsam erinnerte man sich - auf deutsch übrigens - an die Heidelberger Wurzeln der Familie, die auch die Nachkommen nie gekappt haben. Danach wurde im Kurfürst-Friedrich-Gymnasium (KFG) Bruno Oppenheimer gedacht. Wie jedes Jahr stellt die RNZ auf dieser Seite die Schicksale der 24 NS-Opfer vor, auch wenn es nicht von allen Bilder gibt.

> Kaiserstraße 29 (Weststadt): Familie Ferdinand Hochherr: Ferdinand Hochherr (1873-1943) war Mitinhaber der Tabakwarenfabrik B. Hochherr & Co., die er zusammen mit seinem Bruder Simon führte. Das Gebäude in der Kaiserstraße 78 steht heute noch, das Betty-Barclay-Haus. Damals beschäftigte die Firma, die für ihre "Stumpen", billige Massenzigarren, bekannt war, über 300 Arbeiter. 1938 wurde die Firma "arisiert", die einst wohlhabenden Familien Hochherr, die sehr eng miteinander verbunden waren, verloren ihr Vermögen. Im Januar 1939 emigrierten Ferdinand Hochherr, seine zweite Frau Eva (1884-1943) nach Amsterdam, dorthin war bereits 1936 ihre jüngere Tochter Erika (1913-1998) mit ihrem Mann geflohen. Später kam auch Simon Hochherr mit seiner Familie nach. Als die deutschen Truppen die Niederlande besetzten, verschlimmerte sich die Lage der Familien. Ferdinand und Eva Hochherr kamen zunächst ins Durchgangslager Westerbork und 1943 ins Vernichtungslager Sobibor. Dort wurden sie am 13. März 1943 (Ferdinand) und am 23. Juli 1943 (Eva) wahrscheinlich erschossen. Die ältere Tochter Jella Hochherr (1907-1970), eine verheiratete Mendel, lebte zunächst mit ihrem Mann in Essen und emigrierte im April 1939 über Belgien in die USA. Erika Hochherr, eine verheiratete Joseph, floh mit ihrer Familie, darunter dem kleinen Sohn Paul Eric, von Holland in die Schweiz. Nach Kriegsende kehrten sie wieder in die Niederlande zurück.

> Brückenstraße 51: Familie Simon Hochherr: Mit seinem Bruder Ferdinand war Simon Hochherr (1882-1944) 1919 nach Heidelberg gekommen, in diesem Jahr hatte er auch seine zweite Frau Ella (1886-1976) geheiratet. Nach der Enteignung der Firma ging er mit seiner Familie im Januar 1939 nach Holland, dorthin hatte die Tabakfirma alte Geschäftskontakte. Nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen kamen er und seine Frau 1943 wie sein Bruder und seine Schwägerin ins Lager Westerbork. Weil Simon ein dekorierter Soldat des Ersten Weltkriegs war, kamen er und Ella in das "Vorzeigelager" Theresienstadt, das allerdings für viele nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Auschwitz war. Dort wurde er sofort nach seiner Ankunft am 18. Oktober 1944 ermordet. Seine Frau blieb in Theresienstadt, wo sie schließlich 1945 befreit wurde. 1947 emigrierte sie nach Amerika, sie war die einzige Überlebende der Familie, alle ihre zwei (Stief-)Kinder wurden 1942 in Auschwitz ermordet. Aus Simons erster Ehe stammte Heinrich (1910-1942), der bereits vor seinem Vater nach Holland geflohen war, wo er 1938 die gebürtige Breisacherin Margot Bähr (1911-1942) geheiratet hatte. Ihre Tochter Susanne wurde 1939 geboren und zusammen mit Margot erst nach Westerbork deportiert, sie starben am selben Tag (18. Juli 1942) in Auschwitz. Tochter Liselotte (1920-1942), die sehr sprachbegabt war, hatte sich sogar nach England retten können. Doch auf Wunsch ihrer Eltern kehrte sie 1940 nach Amsterdam zurück, weil sie glaubten, dort sei es sicherer als in England, wo die deutsche Luftwaffe die Städte bombardierte. Wie alle in ihrer Familie kam sie zunächst nach Westerbork. Am 30. September 1942 starb sie in Auschwitz.

> Uferstraße 20 (Neuenheim): Familien Gustav Hochherr und Arthur Weil: Gustav Hochherr (1872-1941) war ein Bruder von Ferdinand und Simon und arbeitete ebenfalls in der Tabakbranche. Zusammen mit seinem Schwiegersohn Arthur Weil (1897-1986) hatte er 1928 die Firma Levi Hochherr Rohtabakhandel gegründet. Haus und Firma wurden während des Novemberpogroms 1938 zerstört, die Firma gleich danach aufgelöst. Hochherr und Weil wurden verhaftet, später aber wieder freigelassen. Gustav Hochherr und seine Frau Frieda (1882-1942) kamen am 22. Oktober 1940 ins südfranzösische Internierungslager Gurs, dort starb er am 21. Dezember 1942. Seine Frau kam 1942 nach Auschwitz, wo sich ihre Spur verliert. 1945 wurde sie für tot erklärt. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, die ältere, Ilse (1906 geboren), die mit Arthur Weil verheiratet war, starb bereits 1937 in Heidelberg; die jüngere, Alice Charlotte (geboren 1912) flüchtete rechtzeitig in die USA. Arthur Weil, seine Tochter Ingeborg (geboren 1929) und seine zweite Frau Anneliese Susanne (1910-2010), eine geborene Weil, bekamen im Mai 1939 ein Visum für die USA. Das Schiff durfte nicht vor Kuba ankern, es kehrte wieder nach England um, von dort aus reiste die Familie 1940 in die USA, wo sie sich in Chicago eine Existenz aufbaute. Annelieses Vater, Julius Weil (1864-1943), der in Speyer Viehhändler und Metzger war, zog 1937 mit seiner Tochter nach Heidelberg; sie sollte hier die kleine Ingeborg versorgen. Auch er wurde 1940 nach Gurs deportiert und starb dort am 5. März 1943. Alle Weils stammen übrigens aus demselben Ort, dem pfälzischen Oberlustadt zwischen Speyer und Landau.

> Werderstraße 17 (Neuenheim): Salomon und Paula Deutsch: Der gebürtige Ungar Salomon Deutsch (1893-1944/45) kam nach dem Tode seines Vaters 1904 mit seiner Mutter nach Heidelberg, wo diese eine Pension führte. Zusammen mit seinem Bruder Saul und dem Fabrikanten Simon Hochherr gründete er 1921 den "Verein gesetzestreuer Juden" in Heidelberg und war einer der führenden Mitglieder der orthodoxen Gemeinde. Er war zunächst Zigarrenfabrikant, später hatte er ein Ausstattungsgeschäft. Zusammen mit seiner Frau Paula (1900-1944/45) und dem jüngsten Kind Heinz (1933-1989) wurde er 1940 nach Ungarn ausgewiesen, die älteren drei Kinder konnten 1939 nach Schweden ausreisen. 1944 wurden die drei nach der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen interniert, Heinz wurde freigelassen, er erhielt einen Schutzpass der schwedischen Botschaft, die der legendäre "Judenretter" Raoul Wallenberg ausgestellt hatte. Das Ehepaar wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Alle vier Kinder überlebten.

> Im Schaffner 6 (Pfaffengrund): Maja Bitsch: Der Spengler Adam Bitsch (1882-1938) und seine Frau Katharina (1884-1950) bauten in den dreißiger Jahren ein Haus im Pfaffengrund. Das Paar hatte fünf Kinder, das jüngste war Maja, geboren 1926. Maja war geistig behindert, wahrscheinlich hatte sie das Down-Syndrom. 1937 kam sie in eine Mosbacher Pflegeanstalt, 1939 in den unweit gelegenen Schwarzacher Hof. Am 17. September 1940 wurde sie in der Landespflegeanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb umgebracht - sie zählt damit zu den über 200 Heimbewohnern aus Mosbach, die Opfer der sogenannten "Euthanasie" waren, einer gezielten Tötungsaktion des NS-Regimes an Behinderten. Die "Euthanasie" war der "Probelauf" der Nazis für das massenhafte Ermorden durch Gas.

> Sofienstraße 1 (Altstadt): Bruno Oppenheimer: Im heutigen Kurfürst-Friedrich-Gymnasium wohnte einst die Familie von Moritz Oppenheimer (1865-1946), der der kaufmännische Leiter der Herrenmühle und bis 1930 Stadtverordneter war, und seiner Frau Marie (1872-1969). Ihr viertes von sechs Kindern war der gehörlose Bruno (1904-1940), der außerdem seit seiner Jugendzeit an epileptischen Anfällen litt. Bruno war seit 1922 in einem Pflegeheim für Epilepsiekranke bei Kehl. Weil sie ein behindertes Kind hatten, war es der Familie kaum möglich zu emigrieren. Am 22. Oktober 1940 kamen Moritz und Marie Oppenheimer ins Lager Gurs, der NS-Gegner und Pfarrer an der Heiliggeistkirche, Hermann Maas, verhalf ihnen 1941 zur Flucht in die USA; alle anderen Kinder außer Bruno hatten Deutschland vermutlich schon vor 1940 verlassen. Nur einen Tag nach der Deportation seiner Eltern nach Gurs kam Bruno wie Maja Bitsch nach Grafeneck, noch am selben Tag wurde er ermordet.

> Ziegelhäuser Landstraße 31 (Neuenheim): Julius Rinklin: Der gebürtige Mannheimer Julius Rinklin (1903-1938) war Sattler, wie auch sein Vater. Ursprünglich, protestantisch wurde er ab 1919 zum Zeugen Jehovas, 1930 heiratete er die Bibelforscherin Elsa Weber, zusammen wohnten sie in der Neuenheimer Wohnung seiner Eltern. Auch im NS-Regime ließ Rinklin, wie die anderen Heidelberger Zeugen Jehovas, nicht von seine Grundsatz ab, wie er in der Apostelgeschichte formuliert wird: "Man muss Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen!" Aus dieser Überzeugung heraus leistete die Religionsgruppe gewaltlosen Widerstand. Das Ehepaar Rinklin geriet schnell ins Visier der Gestapo, 1937 wurde Julius Rinklin wie andere seiner Glaubensbrüder verhaftet, im Oktober 1937 kam er in das KZ Kislau, von dort sechs Wochen später nach Dachau, wo er den lila Winkel, eine Stigmatisierung der Bibelforscher, tragen musste. Dort kam er am 10. Juni 1938 ums Leben. Neben Rinklin ermordeten die Nazis von den Heidelberger Zeugen Jehovas auch Ludwig Brummer und Gustav Bopp, an die 2010 und 2011 verlegte Stolpersteine erinnern.

> Albert-Fritz-Straße 52 (Kirchheim): Albert Fritz: Der gebürtige Hornberger Albert Fritz (1899-1943) war Eisendreher und engagierte sich schon früh bei der KPD. Er war bis 1933 Stadtrat in Heidelberg, von 1931 bis 1933 Sekretär der KPD für Baden und die Pfalz. Bereits 1933 wurde er nach der Machübernahme der Nazis verhaftet und kam ins KZ Ankenbuck. 1935 wurde er wieder inhaftiert, weil er illegale Schriften verbreitet hatte, gleich nach seiner Entlassung agitierte er weiter gegen die Nazis an seinem Arbeitsplatz, der Mannheimer Schiffswerft. Schon vor dem Krieg schloss er sich der Widerstandsgruppe um Georg Lechleiter an, die in Mannheimer Großbetrieben tätig war. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion arbeitete er an der Widerstandszeitung "Der Vorbote" mit, bis Dezember 1941 erschienen vier Ausgaben. Kurz vor Fertigstellung der fünften wurde die Gruppe verraten. Ende Februar 1942 verhaftete die Gestapo über 60 Widerstandskämpfer der Region, davon wurden 32 angeklagt und 19 zum Tode verurteilt. Die ersten 14 starben am 15. September 1942 in Stuttgart unter dem Fallbeil, weitere fünf, darunter Fritz, am 24. Februar 1943. Seit 1946 ist der Kirchheimer Steinäckerweg, in dem er ab 1925 wohnte, nach ihm benannt.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.