Medizin am Abend

Die "Bombe im Bauch" lässt sich entschärfen

Gefäßspezialist Professor Dittmar Böckler sprach vor übervollem Haus bei "Medizin am Abend"

30.07.2015 UPDATE: 31.07.2015 06:00 Uhr 2 Minuten, 6 Sekunden

Prof. Dittmar Böckler, Ärztlicher Direktor der Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie, sprach bei "Medizin am Abend" vor mehreren Hundert Interessenten in Hörsaal und Foyer (unten) der Kopfklinik. Fotos: Philipp Rothe

 

Von Birgit Sommer

Es war voll wie jedes Mal bei "Medizin am Abend" im Hörsaal der Kopfklinik, auch die Zusatzplätze im Foyer waren belegt. Ob die Mediziner des Heidelberger Universitätsklinikums auch mal einen uninteressanten Vortrag zu bieten haben? "Ich nicht", sagte Professor Dittmar Böckler am Mittwoch und lachte. "Vielleicht meine Kollegen?"

Hintergrund

"Der Mensch ist so alt, wie es der Zustand seiner Blutgefäße zeigt." Zu Blutgefäßen - Arterien und Venen - und deren Erkrankungen nannte Professor Dittmar Böckler die wichtigsten Zahlen.

> Das Herz schlägt 70 Mal pro Minute, 2,6 Milliarden Mal im Leben eines

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"Der Mensch ist so alt, wie es der Zustand seiner Blutgefäße zeigt." Zu Blutgefäßen - Arterien und Venen - und deren Erkrankungen nannte Professor Dittmar Böckler die wichtigsten Zahlen.

> Das Herz schlägt 70 Mal pro Minute, 2,6 Milliarden Mal im Leben eines 70-Jährigen.

> 9000 Liter Blut pro Tag werden durch den Körper gepumpt - in 95 500 Kilometern Arterien und Venen. Die roten Blutkörperchen brauchen eine Minute, um den ganzen Körper zu durchwandern; sie versorgen dabei 60 Billionen anderer Körperzellen.

> Herzkreislauf-Erkrankungen stellen 47,8 Prozent aller Todesursachen (Krebs: 24,9 Prozent). Diese Zahlen haben sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert.

> 300 000 Schlaganfälle werden jedes Jahr in Deutschland gezählt, jeder fünfte ist tödlich. 50 Prozent der Patienten bleiben arbeitsunfähig und pflegebedürftig. 30 Prozent der Schlaganfälle werden durch eine Verengung der Halsschlagader verursacht. Nach dem ersten Schlaganfall oder Herzinfarkt besteht für Patienten ein mehrfach erhöhtes Risiko für jeweils beide Ereignisse, Herzinfarkt oder Schlaganfall.

> Dem Herzinfarkt liegt meist eine Arteriosklerose (Gefäßwandverkalkung) der Herzkranzgefäße zugrunde. Die Verengungen können plötzlich aufreißen und akut ein Gefäß verschließen.

> Je älter, desto gefährdeter: Gefäßerkrankungen sind auf dem Vormarsch. Das liegt daran, dass immer mehr Menschen immer älter werden. Deutschland hat den dritthöchsten Anteil an über 60-Jährigen in der Bevölkerung. 50 Prozent von ihnen werden mindestens 88 Jahre alt, 70 000 der heute 60-Jährigen werden über 100 Jahre alt werden. bik

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Es war eine Freude, dem begabten Redner zuzuhören, zumal sein Thema praktisch alle Menschen früher oder später betrifft: "Viele Gefäßkrankheiten sind Volkskrankheiten." Neun Millionen Bundesbürger etwa leiden unter Krampfadern. Diese Veränderungen haben wie Thrombosen und Lungenembolie mit den Venen zu tun. Die Arterien sind schuld an Herzinfarkt, Schlaganfall, Schaufensterkrankheit, diabetischem Fuß und Aneurysmen, die Ausbuchtungen an den Gefäßen, die zum Tod führen können, wenn sie reißen. Zum Beispiel 1955 bei Albert Einstein.

Der Ärztliche Direktor der Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie am Universitätsklinikum zeigte in seinem Vortrag, wie Fehlfunktionen der innersten Schicht der Arterien die Krankheiten verursachen, weil dort etwa der Stoffwechsel nicht funktioniert, Giftstoffe konzentriert werden oder die Zellerneuerung gestoppt wird. Ablagerungen und Entzündungen an der Innenwand führen zur Arteriosklerose, der "Mutter aller Gefäßerkrankungen", wie Böckler sagte. Der Patient merkt nichts von dieser Arterienverkalkung, bis das Gefäß zu 80 oder 90 Prozent verengt ist.

Als Risikofaktoren gelten vor allem erhöhtes LDL-Cholesterin, Bluthochdruck, Rauchen, Diabetes und das Alter. Männer über 45 und Frauen über 55 Jahren sind gefährdet. Böckler warnte aber genauso vor Übergewicht, falscher Ernährung, Bewegungsmangel oder Entzündungen von Zahnbett und Zahnhalteapparat (Parodontose). Denn Bakterien, die über das Zahnfleisch in den Körper gelangen, verursachen Entzündungen und schädigen damit die Gefäße - das kann bis hin zum Herzinfarkt führen.

Ob jemand an Arteriosklerose beziehungsweise der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK, Schaufensterkrankheit) leidet, ist laut Böckler für den Arzt gar nicht so schwer festzustellen: Der Pulsstatus an den Füßen wird erhoben, es gibt Ultraschall, Kernspinangiographie, Computertomographie und - was die Zuhörer am meisten beeindruckte - den "Knöchel-Arm-Index" als Marker.

Bei gesunden Gefäßen sind die Blutdruckwerte an Arm und Bein annähernd gleich und der Index liegt etwa bei 1,0. Beträgt der Wert 0,9 oder weniger, liegt eine pAVK vor. "So einfach kann man sehen, ob eine Gefäßkrankheit vorliegt", erklärte Böckler. Mehrere Millionen Deutsche leiden daran. Es heißt, dass 75 Prozent der pAVK-Patienten an Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben werden, denn die Krankheit weist auf weitere Gefäßverengungen hin, zum Beispiel in hirn- und herzversorgenden Schlagadern.

Als reine Früherkennungsuntersuchung werde die Messung des Knöchel-Arm-Indexes allerdings nicht von den Kassen bezahlt, sagte der Gefäßspezialist. Wer sie beim Arzt als IGeL-Leistung vornehmen lässt, zahlt nach Angaben von Medizinern je nach Aufwand zwischen zwölf und 30 Euro.

"Bewegung schützt", erklärte Prof. Dittmar Böckler zum Thema Vorsorge. Wer gleichzeitig Aspirin, Beta-Blocker/ACE-Hemmer und Statine einnehme, reduziere sein Risiko für Gefäßerkrankungen um bis zu 30 Prozent, wer mit dem Rauchen aufhöre, sogar um 50 Prozent.

Einen Blick auf sein ureigenes Gebiet der Gefäßchirurgie warf der Mediziner natürlich auch: Eine verengte Halsschlagader lässt sich heute ausschälen, Gefäße werden mit Bypässen umgangen, Aneurysmen mithilfe von Stents abgedichtet. "Damit ist die Bombe im Bauch entschärft."

Für die Zukunft erwartet Böckler Gefäßprothesen, die sich von innen verschrauben lassen, und in fünf bis zehn Jahren Möglichkeiten zur Früherkennung durch Gentests aus Speichelproben, aber: "Keine Medikamente."

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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