Stolperstein-Initiative in Malsch

Auf den Spuren des jüdischen Lebens

Stolperstein-Initiative hatte zu einer Führung durch den Ort eingeladen - Geschichte wurde lebendig

02.05.2017 UPDATE: 03.05.2017 06:00 Uhr 3 Minuten, 37 Sekunden

Der Gedenkstein am hinteren Dorfplatz in Malsch erinnert an die Synagoge, die einst hier stand. Foto: Pfeifer

Malsch. (oé) Gut 50 interessierte Bürger machten sich auf Einladung der Stolpersteininitiative des Heimat- und Verkehrsvereins auf, um die Spuren jüdischen Lebens in Malsch zu erkunden: Der Rundgang durch den Ort führte an die Stätten, wo einst jüdische Mitbürger lebten.

Dabei gewann man einen Eindruck von den teils noch erhaltenen Gebäuden, mehr aber noch von den Menschen, die darin lebten - und von ihren tragischen Schicksalen. Dies vor allem dank der akribischen Recherche, mit der die Stolpersteininitiative seit nunmehr vier Jahren die Lebenswege der Malscher Juden erforscht und dokumentiert, wie Bürgermeisterin Sibylle Würfel eingangs betont hatte.

Ihren Ausgangspunkt nahm die Wanderung am einstigen Zentrum des jüdischen Lebens in Malsch: dem rückwärtigen Dorfplatz, auf dem einst Synagoge, Schul- und Badehaus (die Mikwe) standen. Heute gibt es davon keine Spuren mehr, nur ein Gedenkstein erinnert noch an die Geschichte dieses Orts (die Stolpersteininitiative regt aber an, die Grundrisse der Synagoge bei der anstehenden Neugestaltung des Platzes wieder sichtbar zu machen).

Die ältesten Spuren jüdischen Lebens in Malsch reichen über 370 Jahre zurück bis ins Jahr 1646. 1721 war Malsch das einzige Dorf im Amtsbezirk Rotenberg, in dem Juden wohnten (und zwar fünf Familien). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts machte der jüdische Bevölkerungsanteil sieben Prozent aus: Neben 1240 Katholiken und sieben Evangelischen lebten damals auch 94 Israeliten in dem Ort. All das war von Dr. Johannes Rott und Hans-Georg Schmitz zu erfahren, die wie Gabi Silver und Ludwig Fröhlich die einzelnen Stationen erläuterten.

Seit 1834 hatte die jüdische Gemeinde eine eigene Synagoge. Das Gotteshaus sollte jedoch nur gut 100 Jahre überdauern. In der "Reichspogromnacht" am 9. November 1938 wurde es zerstört. "Wieslocher SA-Leute und einheimische Parteigenossen" schlugen die Fenster ein, verwüsteten die Inneneinrichtung, rissen die Tafel mit den Zehn Geboten herunter und zündeten das Gebäude schließlich an. Zu löschen, war verboten, und die Trümmer musste die jüdische Gemeinde auf eigene Kosten entfernen lassen.

Am nächsten Morgen sammelte die 13-jährige Resl Heß die über den Platz verstreuten Gebetbücher ein und stapelte sie fein säuberlich vor ihrem Elternhaus auf, das gleich neben der Synagoge stand. Als die SA zurückkam, versteckte das Mädchen sich und die Gebetbücher im Heuboden.

Zum Glück wurden sie nicht entdeckt. Genauso wenig wie die Thorarolle, die der Nachbar Simon Heß aus der brennenden Synagoge gerettet hatte. Adolf Heß, der "Schuh-Herzl", nahm sie an sich und brachte sie bei seiner Emigration in die USA, wo sie im Nachlass des Sohnes entdeckt wurde. Möglicherweise befindet sich die Malscher Thorarolle heute in Israel, so die Vermutung von Hans-Georg Schmitz.

Auch Resl Heß gelang mit ihren Eltern die Flucht (die beiden älteren Kinder lebten bereits in den USA und Vater Salomon Heß hatte noch rechtzeitig ein Visum erhalten). Resl nahm die Gebetbücher mit, sie wurden ihr später mit ins Grab gelegt. Ihre Enkeltochter Amanda Dryer hat Malsch inzwischen besucht und steht in regem Austausch mit der Stolpersteininitiative.

Auch die bereits betagten Eheleute Simon und Frieda Heß konnten noch rechtzeitig vor Ausbruch des Krieges in die Schweiz entkommen. Ihr ehemaliges Anwesen in der Friedhofstraße hatten die heutigen Bewohner Ludwig Fröhlich und Tanja Becker-Fröhlich zur Besichtigung geöffnet. Dabei erfuhren die Gäste viel über die wechselvolle Familiengeschichte des Viehhändlers Simon Heß und auch, wie eng die nachbarschaftlichen Beziehungen waren. So bestand noch bis 1949 Briefkontakt der Ehefrau mit Nachbarn.

Aber nicht alle Juden Malschs konnten dem Holocaust rechtzeitig entkommen. 15 blieben im Ort und wurden am 22. Oktober 1940 wie 6500 andere badische Juden ins südfranzösische Gurs deportiert. Vor dem alten Rathaus (heute ist dort der Parkplatz neben der Volksbank) wurden sie auf Lkw verladen und zum Heidelberger Bahnhof gebracht. Theresa Heß war mit 92 Jahren die älteste. Sie überlebte Schock und Strapazen nur eine gute Woche. Andere starben im Lager Gurs oder wurden später in Auschwitz vergast.

Nur vier überlebten. Ludwig Heß und seiner Frau Klara gelang es, aus dem Lager Gurs in ein Altersheim zu kommen. Nach dem Krieg kehrten sie nach Malsch zurück. Ludwig Heß hatte mit seiner Prophezeiung recht behalten. Beim Abtransport hatte er den Wartenden zugerufen: "Ich komm wieder. Wir sehen uns wieder."

Die anderen beiden Überlebenden waren die beiden jüngsten Opfer der Deportation: Ruth Hamburger war damals zehn Jahre alt. Ihr Elternhaus stand auf dem heutigen Dorfplatz. Ihre Eltern führten das Stoffgeschäft der Großeltern Hilb weiter. In der "Reichspogromnacht" wurde das Geschäft geplündert und das Inventar auf die Straße geworfen, während sich die Familie im Speicher versteckte.

Mit acht Jahren wurde Ruth von zwei Männern abgeholt und nach Heidelberg gebracht, weil sie in Malsch nicht mehr zur Schule gehen durfte. Deshalb wurde sie auch von Heidelberg aus deportiert. Während ihre Eltern und Großeltern umkamen, überlebte Ruth den Holocaust mit falschen Papieren. Französische Bauernfamilien hielten sie versteckt, nach dem Krieg gelangte sie in die USA, wo sie heute noch 87-jährig lebt. Sie bekam drei Söhne und hat heute sechs Enkel, wie Gabi Silver berichtete.

Auch das jüngste Malscher Deportationsopfer lebt heute in den USA: Rolf Heß war noch keine sechs Jahre alt, als er mit seiner Mutter Rosa und dem Großvater Simon Heß abgeholt wurde. Beide wurden in Auschwitz ermordet. Der kleine Rolf kam in Frankreich in dasselbe Waisenhaus wie Ruth Hamburger und gelangte 1942 mit einem Kindertransport in die USA. 2015 war der 80-Jährige zum 75. Jahrestag der Deportation nach Gurs mit seiner Familie zu Gast in Malsch.

Wie ergreifend und tief bewegend diese Begegnung für ihn und alle Beteiligten war, das zeigte ein Film, den Peter Silver zum Abschluss der Führung in der Besenwirtschaft "Zum bärtigen Winzer" zeigte (dort lebte bis 1938 die Familie Salomon Heß). Dass man in Malsch so viele Kontakte mit Überlebenden und deren Angehörigen hat, "das ist etwas ganz Kostbares", fand nicht nur Elisabeth Hilbert, die Vorsitzende des Vereins "Jüdisches Leben im Kraichgau".

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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